Re: Pflegeheime und Demenz - Erfahrungen
Liebe Leona,
Adelheid hat Ihnen schon sehr schön und sehr ermutigend geschrieben.
Mir tut es in der Seele weh, wenn ich sehe, wie Sie kämpfen und nur das Beste für Ihren Vater wollen - und immer wieder Rückschläge einstecken müssen. Wie vielen Angehörigen ergeht es so!
Ich glaube, Sie denken in vielen Dingen wie ich - ich versuche auch meiner Mutter die bestmögliche Lösung zu bieten (die optimale wird es sowieso nicht geben) und möglichst auf Ruhigstellung zu verzichten. Deswegen leide ich mit Ihnen... mir tut das wirklich wahnsinnig leid, was Sie da gerade durchmachen müssen!
Aber auch ich habe in der Vergangenheit immer und immer wieder diese zermürbenden Kämpfe mit Ärzten und Pflegern erlebt. Die Leute sind nicht hinreichend ausgebildet oder haben keine Zeit, kein Interesse an dem zu pflegenden Menschen oder was auch immer - und schon nach wenigen Tagen kommen die ersten dezenten Hinweise: 'Nimmt Ihre Mutter eigentlich Medikamente?' Von den Ärzten - bis auf unsere Hausärztin, die wirklich ein Goldstück ist - kommt meist dasselbe. Mensch, ist das eine Sch... anders kann man das wirklich nicht sagen.
Mir platzt echt der Kragen, wenn ich täglich sehe und höre, wie sich andere Angehörige mit diesem Mist herumschlagen müssen. Wann wird man endlich menschenwürdig mit unserer alten Generation umgehen? Wir werden doch alle selber mal alt!
Solche Fälle, wie Sie sie schildern, liebe Leona, daß Ihr Vater einfach unruhig und überfordert ist (die Situation in der WG ist ja wohl offensichtlich) rechtfertigt meiner Ansicht nach nicht den Einsatz eines Neuroleptikums, bevor nicht versucht wurde, ihn mit psychosozialer Einbindung oder pflanzlichen Mitteln zu behandeln. Punkt. Möge sich jetzt beklagen wer will. Ich habe genug davon, daß man Menschen unter Inkaufnahme schwerer und schwerster Nebenwirkungen ins Land des Lächelns schickt, nur weil sie "schwierig", "unruhig" und "nicht lenkbar" sind. Ich sage es noch einmal: Auch meine Mutter kann störrisch werden und schlägt und beschimpft mich. Ich kenne aber mittlerweile die Ursachen ganz genau und stelle mich darauf ein. Natürlich muß man sich ein dickes Fell wachsen lassen. Natürlich kommt nicht jeder damit zurecht. Aber wer das nicht kann, der soll nicht pflegen. Den Menschen ruhig zu stellen, weil ich persönlich nicht damit umzugehen weiß, ist kein Grund. Genauso denke ich über die anderen "Defizite". Wie Adelheid schon sagte - wenn auf dem Weg zur Toilette ein "Mißgeschick" passiert, dann ist es halt so. Das gehört zur Pflege dazu.
Ich zitiere jetzt mal jemanden, der vom Fach ist. Prof. Dr. Erich Grond, emeritierter Professor für Sozialmedizin und Psychopathologie. Arbeitet als Psychotherapeut und Dozent für Gerontopsychiatrie in Altenpflegeseminaren. Mehr als 30 Jahre Erfahrung. Hat viele Bücher geschrieben über Altenpflege und Pflege Demenzkranker. Er propagiert statt der 3-S-Pflege (satt, sauber, still) die 3-Z-Pflege: Zuwendung, Zeit, Zärtlichkeit. Ich würde mal wagen zu behaupten: Der Mann weiß wovon er spricht.
"Die Neuroleptikaverordnung ist die gefährlichste Verordnung in den Altenheimen. Und das Problem ist, daß eine klare psychiatrische Diagnose fehlt".
"Wir haben klare psychiatrische Indikationen für Neuroleptika. Da ist überhaupt nicht drüber zu streiten. Dann sind die Neuroleptika notwendig. Aber wir haben nicht das Recht, einfach bei einem Aggressiven dauernd Haldol zu geben oder bei anderen Störungen, wenn einer stört oder auch nur beruhigt werden will, dann dauernd Haldol zu geben. Und das ist das, wogegen ich mich so fürchterlich wehre dagegen, was mich fürchterlich aufregt. Die Benzodiazepine sind weitgehend ausgeschlichen aus den Heimen aber dann hat man einfach Haldol gegeben statt überzugehen auf entsprechende pflanzliche Mittel. Wir haben genügend pflanzliche Mittel. Wenn schon Medikamente. Wobei ja die nichtmedikamentöse Behandlung aller dieser Zustände überhaupt nicht berücksichtigt wird."
(Quelle: Deutschlandfunk 1999, Reportage von Bernd Kempker: "Dem eigenen Ableben emotionslos zusehen – Psychopharmaka in Altenheimen")
Ich zitiere weiter Prof. Dr. Erich Grond aus seinem Buch "Pflege Demenzkranker", Brigitte Kunz Verlag, Schlütersche Verlagsgesellschaft 2005 (ISBN 3-89993-431-8):
Kapitel 10.4 "Welche Medikamente können helfen?" Seite 74 ff.
(zu Antidementiva)
"Mit Aricept, Exelon und Reminyl lassen sich Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Verhaltensstörungen bessern, sodass die Pflegebedürftigkeit hinausgezögert wird, d.h. der Behandlungserfolg ist bei den meisten gesichert."
"Bei vaskulärer Demenz wird Acetylsalicylsäure (ASS; Aspirin) und bei Magenunverträglichkeit Ticlopidin (Tiklyd) oder Iscover oder Plavix empfohlen."
"Pentoxifyllin (Agapurin, Durapental, Trental) verbessert die Durchblutung. Nebenwirkungen sind Übelkeit, Erbrechen und Schwindel."
"Die Antioxidantien Vitamin E und Selegelin (Antiparkin, Movergan) werden auch zur Demenzbehandlung empfohlen."
"Sauerstoff-Überdruck-Therapie, Procain wie KH 3 sind nicht sicher wirksam, Psychostimulantien (Tradon, Ritalin) fördern Errgegung, Schlafstörung."
"Die Verhaltensstörungen sind oft Reaktionen auf Überforderung und Beziehungsstörungen und führen häufiger zur Heimunterbringung als kognitive Störungen. Vor dem Einsatz von Psychopharmaka sollten psychosoziale Maßnahmen, z.B. Verhaltenstherapie und Cholinesterase-Hemmer, versucht werden. Der von Politikern und Trägern zu verantwortende geringe Personalschlüssel erklärt die hohe Zahl von Neuroleptikaverordnungen. Das wichtigste Medikament sind zwei konstante Bezugspersonen, nicht Psychopharmaka.
Alzheimer-Patienten sind besonders anfällig für die Nebenwirkungen von Neuroleptika. Sie dürfen nur einschleichend bis höchstens zur halben Erwachsenendosis gegeben werden. Bedarf und Verträglichkeit schwanken individuell erheblich. Psychopharmaka sollten mindestens vierteljährlich überprüft werden, ob sie noch nötig oder auszuschleichen sind. Pflanzliche Mittel sollten immer Vorrang haben wegen der wesentlich geringeren Nebenwirkungen."
"Gegen Unruhe hilft Magnesium als Brausetablette. Distraneurin in niedriger Dosis beruhigt Suchtkranke, bevor Melperon oder Dipiperon eingesetzt werden. Gegen sun-downing-Unruhe in den frühen Abendstunden hat sich Lichttherapie für ein bis zwei Stunden bewährt. Hopfen, Baldrian, Melisse, Passionsblume und Johanniskraut beruhigen, Krankenkassen zahlen nicht."
"Gegen Angst helfen Buspiron oder Baldrian erst nach Tagen. Bei akuter Panik wirkt Tavor-Expidet auf der Zunge in zehn Minuten."
"Gegen Depression zunächst ein Versuch mit Johanniskraut und Baldrian und, wenn es nicht ausreicht, Citalopram oder Thromban."
"Gegen Wahn kann Melperon und bei bedrohlichen Halluzinationen Risperidon helfen, wenn Wahn überhaupt auf diese Therapie anspricht. Haldol als starkes Antipsychotikum sollte vermieden werden."
"Gegen Aggressivität ist Magnesium, bei gleichzeitiger Sucht Distraneurin in niedriger Dosis empfehlenswert, Risperidon ist das Mittel der Wahl, Valproat (z.B. Ergenyl, Orfiril) bei anfallsweiser Aggression."
"Gegen schwere Schlafstörungen pflanzliche Beruhigungsmittel, evtl. Chloraldurat oder für zwei bis drei Wochen Distraneurin oder Zopiclon. Benzodiazepin-Schlafmittel können Demenzen verschlimmern."
"Gegen Bewegungsstörungen helfen Memantine wie Axura oder Ebixa; wenn sie durch Neuroleptika ausgelöst sind, sind diese abzusetzen."
"Gegen Schreien wirkt Risperidon oder Valproat, z.B. Ergenyl."
"Gegen Drang-Inkontinenz können Trospiumchlorid (Spasmex, Spasmolyt) oder Oxybutynin-Pflaster (Kentera) eingesetzt werden, weil sie nicht zentral wirken. Dranginkontinenz wird auch durch die Antidementiva Reminyl, Exelon und Memantine und durch Toilettentraining gebessert."
"Gegen epileptische Anfälle wirken Phenytoin und Carbamazepin. Neuroleptika und Benzodiazepine dürfen tagsüber nicht sedieren, können bei Demenzkranken paradox wirken, Denkeinbußen verstärken, andere Arznei verstärken oder abschwächen; sie sollten langsam ein- und ausgeschlichen werden. Da Demenzkranke multimorbid sind, müssen andere Leiden wie Diabetes, hoher Blutdruck und vor allem Schmerzen mitbehandelt werden."
"Nach eigenen Untersuchungen erhalten zwei Drittel der demenzkranken Heimbewohner Neuroleptika, obwohl sie extrapyramidale Bewegungsstörungen (Gangstörungen), Sturzgefahr, Verwirrtheit (Delirgefahr), Sitz- und Stehunruhe (Akathisie), Verstopfung und Inkontinenz verstärken und zu Zungen-, Schlund- oder Blinzelkrämpfen führen. Personen mit Levy-Körper-Demenz vertragen auch niedrige Dosen von Neuroleptika überhaupt nicht. Risperidon kann bei längerer Behandlung (über ein Vierteljahr) Herzinfarkt oder Schlaganfälle bei Gefäß-Risikofaktoren fördern.
Benzodiazepine können in niedriger Dosierung bei demenzkranken Personen stark sedieren, Sturz-, Depressions- und Inkontinenzgefahr verstärken, die kognitiven Fähigkeiten einschränken und sogar Unruhe steigern; Lorazepam und Oxazepam haben geringe Nebenwirkungen. Buspiron ist eine Alternative bei Angst und Unruhe. Anticholinergisch wirksame Medikamente dürfen demenzkranke Personen nicht einnehmen, weil nicht nur bei Alzheimer-Demenz, sondern auch bei anderen Demenzformen Acetylcholin fehlt. Anticholinergika sind trizyklische Antidepressiva wie Anafranil, Gemonil, Nortrilen, Tofranil, Amitriptylin oder Saroten, Doxepin oder Aponal oder Atangyl. Die trizyklischen Neuroleptika wie Truxal, Ciatyl, Fluanxol und die Phenothiazine wie Atosil, Neurocil, Taxilan, wirken auch anticholinergisch wie Parkinsonmittel und Spasmolytika. Anticholinergika können ein Delir, Verstopfung und Harnverhalt bei Prostata-Adenom auslösen, den Augeninnendruck bis zum Glaukom (grüner Star) und die Sturzgefahr erhöhen."
Soviel zu Prof. Grond. Es gibt noch einen ausgewiesenen Experten zum Thema, wie Demenzkranke unter größtmöglicher Vermeidung von Neuroleptika zu pflegen sind - Dr. Jan Wojnar. Auch er ist bereits im Ruhestand und hat Bücher dazu geschrieben. Eine wahre Goldgrube an Tips!
Nur - das wird Ihnen in Ihrer Situation nicht weiterhelfen. Solange Sie keine Einrichtung finden, in der man mit Demenzkranken sach- und fachgerecht umzugehen weiß, werden Sie immer wieder auf dieselben Phänomene stoßen. Wo sind eigentlich die guten Heime und Einrichtungen, die Frau Ulla Schmidt immer wieder propagiert? Die sollen doch angeblich in der Mehrzahl sein und die schlechteren Einrichtungen sind doch alles nur Einzelfälle. Seltsam, das... irgendwas kann hier nicht stimmen. Ich krieg' das nicht zusammen.
Ich rate Ihnen dennoch: Warten Sie erst einmal ab. Wenn sich die Gruppe jetzt erst zu formieren beginnt und noch nicht alles eingerichtet ist und die Abläufe sich nicht eingeschwungen haben, kann man schwer beurteilen, ob Ihr Vater dort richtig untergebracht ist. Wehren Sie sich aber gegen die medikamentöse Behandlung. Die machen es sich ein bißchen zu einfach. Wenn man dort mit unruhigen Demenzkranken nicht umgehen kann, sollen sie keine Demenz-WG eröffnen. Dann sind sie fachlich nicht in der Lage dazu und sollten es besser lassen, bevor sie den alten Menschen Schaden zufügen.
Daß Sie sich so schlecht fühlen, ist bedenklich. Haben Sie mal darüber nachgedacht, mit Ihrem Vater einen betreuten Urlaub zu machen? Ich selbst habe gute Erfahrungen damit gemacht - mir hilft es beim Auftanken. In der Urlaubssituation ist alles viel entspannter. Pflegekräfte kümmern sich um Ihren Vater - Sie können es aber auch selbst tun, wenn Sie möchten. Sie können mit Ihrem Vater oder auch alleine etwas unternehmen. Ganz wie Sie möchten. Mir hilft das unheimlich. Sie müssen mal raus aus der Situation, sonst gehen Sie kaputt daran.
Liebe Grüße,
Petra H.
Liebe Leona,
Adelheid hat Ihnen schon sehr schön und sehr ermutigend geschrieben.
Mir tut es in der Seele weh, wenn ich sehe, wie Sie kämpfen und nur das Beste für Ihren Vater wollen - und immer wieder Rückschläge einstecken müssen. Wie vielen Angehörigen ergeht es so!
Ich glaube, Sie denken in vielen Dingen wie ich - ich versuche auch meiner Mutter die bestmögliche Lösung zu bieten (die optimale wird es sowieso nicht geben) und möglichst auf Ruhigstellung zu verzichten. Deswegen leide ich mit Ihnen... mir tut das wirklich wahnsinnig leid, was Sie da gerade durchmachen müssen!
Aber auch ich habe in der Vergangenheit immer und immer wieder diese zermürbenden Kämpfe mit Ärzten und Pflegern erlebt. Die Leute sind nicht hinreichend ausgebildet oder haben keine Zeit, kein Interesse an dem zu pflegenden Menschen oder was auch immer - und schon nach wenigen Tagen kommen die ersten dezenten Hinweise: 'Nimmt Ihre Mutter eigentlich Medikamente?' Von den Ärzten - bis auf unsere Hausärztin, die wirklich ein Goldstück ist - kommt meist dasselbe. Mensch, ist das eine Sch... anders kann man das wirklich nicht sagen.
Mir platzt echt der Kragen, wenn ich täglich sehe und höre, wie sich andere Angehörige mit diesem Mist herumschlagen müssen. Wann wird man endlich menschenwürdig mit unserer alten Generation umgehen? Wir werden doch alle selber mal alt!
Solche Fälle, wie Sie sie schildern, liebe Leona, daß Ihr Vater einfach unruhig und überfordert ist (die Situation in der WG ist ja wohl offensichtlich) rechtfertigt meiner Ansicht nach nicht den Einsatz eines Neuroleptikums, bevor nicht versucht wurde, ihn mit psychosozialer Einbindung oder pflanzlichen Mitteln zu behandeln. Punkt. Möge sich jetzt beklagen wer will. Ich habe genug davon, daß man Menschen unter Inkaufnahme schwerer und schwerster Nebenwirkungen ins Land des Lächelns schickt, nur weil sie "schwierig", "unruhig" und "nicht lenkbar" sind. Ich sage es noch einmal: Auch meine Mutter kann störrisch werden und schlägt und beschimpft mich. Ich kenne aber mittlerweile die Ursachen ganz genau und stelle mich darauf ein. Natürlich muß man sich ein dickes Fell wachsen lassen. Natürlich kommt nicht jeder damit zurecht. Aber wer das nicht kann, der soll nicht pflegen. Den Menschen ruhig zu stellen, weil ich persönlich nicht damit umzugehen weiß, ist kein Grund. Genauso denke ich über die anderen "Defizite". Wie Adelheid schon sagte - wenn auf dem Weg zur Toilette ein "Mißgeschick" passiert, dann ist es halt so. Das gehört zur Pflege dazu.
Ich zitiere jetzt mal jemanden, der vom Fach ist. Prof. Dr. Erich Grond, emeritierter Professor für Sozialmedizin und Psychopathologie. Arbeitet als Psychotherapeut und Dozent für Gerontopsychiatrie in Altenpflegeseminaren. Mehr als 30 Jahre Erfahrung. Hat viele Bücher geschrieben über Altenpflege und Pflege Demenzkranker. Er propagiert statt der 3-S-Pflege (satt, sauber, still) die 3-Z-Pflege: Zuwendung, Zeit, Zärtlichkeit. Ich würde mal wagen zu behaupten: Der Mann weiß wovon er spricht.
"Die Neuroleptikaverordnung ist die gefährlichste Verordnung in den Altenheimen. Und das Problem ist, daß eine klare psychiatrische Diagnose fehlt".
"Wir haben klare psychiatrische Indikationen für Neuroleptika. Da ist überhaupt nicht drüber zu streiten. Dann sind die Neuroleptika notwendig. Aber wir haben nicht das Recht, einfach bei einem Aggressiven dauernd Haldol zu geben oder bei anderen Störungen, wenn einer stört oder auch nur beruhigt werden will, dann dauernd Haldol zu geben. Und das ist das, wogegen ich mich so fürchterlich wehre dagegen, was mich fürchterlich aufregt. Die Benzodiazepine sind weitgehend ausgeschlichen aus den Heimen aber dann hat man einfach Haldol gegeben statt überzugehen auf entsprechende pflanzliche Mittel. Wir haben genügend pflanzliche Mittel. Wenn schon Medikamente. Wobei ja die nichtmedikamentöse Behandlung aller dieser Zustände überhaupt nicht berücksichtigt wird."
(Quelle: Deutschlandfunk 1999, Reportage von Bernd Kempker: "Dem eigenen Ableben emotionslos zusehen – Psychopharmaka in Altenheimen")
Ich zitiere weiter Prof. Dr. Erich Grond aus seinem Buch "Pflege Demenzkranker", Brigitte Kunz Verlag, Schlütersche Verlagsgesellschaft 2005 (ISBN 3-89993-431-8):
Kapitel 10.4 "Welche Medikamente können helfen?" Seite 74 ff.
(zu Antidementiva)
"Mit Aricept, Exelon und Reminyl lassen sich Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Verhaltensstörungen bessern, sodass die Pflegebedürftigkeit hinausgezögert wird, d.h. der Behandlungserfolg ist bei den meisten gesichert."
"Bei vaskulärer Demenz wird Acetylsalicylsäure (ASS; Aspirin) und bei Magenunverträglichkeit Ticlopidin (Tiklyd) oder Iscover oder Plavix empfohlen."
"Pentoxifyllin (Agapurin, Durapental, Trental) verbessert die Durchblutung. Nebenwirkungen sind Übelkeit, Erbrechen und Schwindel."
"Die Antioxidantien Vitamin E und Selegelin (Antiparkin, Movergan) werden auch zur Demenzbehandlung empfohlen."
"Sauerstoff-Überdruck-Therapie, Procain wie KH 3 sind nicht sicher wirksam, Psychostimulantien (Tradon, Ritalin) fördern Errgegung, Schlafstörung."
"Die Verhaltensstörungen sind oft Reaktionen auf Überforderung und Beziehungsstörungen und führen häufiger zur Heimunterbringung als kognitive Störungen. Vor dem Einsatz von Psychopharmaka sollten psychosoziale Maßnahmen, z.B. Verhaltenstherapie und Cholinesterase-Hemmer, versucht werden. Der von Politikern und Trägern zu verantwortende geringe Personalschlüssel erklärt die hohe Zahl von Neuroleptikaverordnungen. Das wichtigste Medikament sind zwei konstante Bezugspersonen, nicht Psychopharmaka.
Alzheimer-Patienten sind besonders anfällig für die Nebenwirkungen von Neuroleptika. Sie dürfen nur einschleichend bis höchstens zur halben Erwachsenendosis gegeben werden. Bedarf und Verträglichkeit schwanken individuell erheblich. Psychopharmaka sollten mindestens vierteljährlich überprüft werden, ob sie noch nötig oder auszuschleichen sind. Pflanzliche Mittel sollten immer Vorrang haben wegen der wesentlich geringeren Nebenwirkungen."
"Gegen Unruhe hilft Magnesium als Brausetablette. Distraneurin in niedriger Dosis beruhigt Suchtkranke, bevor Melperon oder Dipiperon eingesetzt werden. Gegen sun-downing-Unruhe in den frühen Abendstunden hat sich Lichttherapie für ein bis zwei Stunden bewährt. Hopfen, Baldrian, Melisse, Passionsblume und Johanniskraut beruhigen, Krankenkassen zahlen nicht."
"Gegen Angst helfen Buspiron oder Baldrian erst nach Tagen. Bei akuter Panik wirkt Tavor-Expidet auf der Zunge in zehn Minuten."
"Gegen Depression zunächst ein Versuch mit Johanniskraut und Baldrian und, wenn es nicht ausreicht, Citalopram oder Thromban."
"Gegen Wahn kann Melperon und bei bedrohlichen Halluzinationen Risperidon helfen, wenn Wahn überhaupt auf diese Therapie anspricht. Haldol als starkes Antipsychotikum sollte vermieden werden."
"Gegen Aggressivität ist Magnesium, bei gleichzeitiger Sucht Distraneurin in niedriger Dosis empfehlenswert, Risperidon ist das Mittel der Wahl, Valproat (z.B. Ergenyl, Orfiril) bei anfallsweiser Aggression."
"Gegen schwere Schlafstörungen pflanzliche Beruhigungsmittel, evtl. Chloraldurat oder für zwei bis drei Wochen Distraneurin oder Zopiclon. Benzodiazepin-Schlafmittel können Demenzen verschlimmern."
"Gegen Bewegungsstörungen helfen Memantine wie Axura oder Ebixa; wenn sie durch Neuroleptika ausgelöst sind, sind diese abzusetzen."
"Gegen Schreien wirkt Risperidon oder Valproat, z.B. Ergenyl."
"Gegen Drang-Inkontinenz können Trospiumchlorid (Spasmex, Spasmolyt) oder Oxybutynin-Pflaster (Kentera) eingesetzt werden, weil sie nicht zentral wirken. Dranginkontinenz wird auch durch die Antidementiva Reminyl, Exelon und Memantine und durch Toilettentraining gebessert."
"Gegen epileptische Anfälle wirken Phenytoin und Carbamazepin. Neuroleptika und Benzodiazepine dürfen tagsüber nicht sedieren, können bei Demenzkranken paradox wirken, Denkeinbußen verstärken, andere Arznei verstärken oder abschwächen; sie sollten langsam ein- und ausgeschlichen werden. Da Demenzkranke multimorbid sind, müssen andere Leiden wie Diabetes, hoher Blutdruck und vor allem Schmerzen mitbehandelt werden."
"Nach eigenen Untersuchungen erhalten zwei Drittel der demenzkranken Heimbewohner Neuroleptika, obwohl sie extrapyramidale Bewegungsstörungen (Gangstörungen), Sturzgefahr, Verwirrtheit (Delirgefahr), Sitz- und Stehunruhe (Akathisie), Verstopfung und Inkontinenz verstärken und zu Zungen-, Schlund- oder Blinzelkrämpfen führen. Personen mit Levy-Körper-Demenz vertragen auch niedrige Dosen von Neuroleptika überhaupt nicht. Risperidon kann bei längerer Behandlung (über ein Vierteljahr) Herzinfarkt oder Schlaganfälle bei Gefäß-Risikofaktoren fördern.
Benzodiazepine können in niedriger Dosierung bei demenzkranken Personen stark sedieren, Sturz-, Depressions- und Inkontinenzgefahr verstärken, die kognitiven Fähigkeiten einschränken und sogar Unruhe steigern; Lorazepam und Oxazepam haben geringe Nebenwirkungen. Buspiron ist eine Alternative bei Angst und Unruhe. Anticholinergisch wirksame Medikamente dürfen demenzkranke Personen nicht einnehmen, weil nicht nur bei Alzheimer-Demenz, sondern auch bei anderen Demenzformen Acetylcholin fehlt. Anticholinergika sind trizyklische Antidepressiva wie Anafranil, Gemonil, Nortrilen, Tofranil, Amitriptylin oder Saroten, Doxepin oder Aponal oder Atangyl. Die trizyklischen Neuroleptika wie Truxal, Ciatyl, Fluanxol und die Phenothiazine wie Atosil, Neurocil, Taxilan, wirken auch anticholinergisch wie Parkinsonmittel und Spasmolytika. Anticholinergika können ein Delir, Verstopfung und Harnverhalt bei Prostata-Adenom auslösen, den Augeninnendruck bis zum Glaukom (grüner Star) und die Sturzgefahr erhöhen."
Soviel zu Prof. Grond. Es gibt noch einen ausgewiesenen Experten zum Thema, wie Demenzkranke unter größtmöglicher Vermeidung von Neuroleptika zu pflegen sind - Dr. Jan Wojnar. Auch er ist bereits im Ruhestand und hat Bücher dazu geschrieben. Eine wahre Goldgrube an Tips!
Nur - das wird Ihnen in Ihrer Situation nicht weiterhelfen. Solange Sie keine Einrichtung finden, in der man mit Demenzkranken sach- und fachgerecht umzugehen weiß, werden Sie immer wieder auf dieselben Phänomene stoßen. Wo sind eigentlich die guten Heime und Einrichtungen, die Frau Ulla Schmidt immer wieder propagiert? Die sollen doch angeblich in der Mehrzahl sein und die schlechteren Einrichtungen sind doch alles nur Einzelfälle. Seltsam, das... irgendwas kann hier nicht stimmen. Ich krieg' das nicht zusammen.
Ich rate Ihnen dennoch: Warten Sie erst einmal ab. Wenn sich die Gruppe jetzt erst zu formieren beginnt und noch nicht alles eingerichtet ist und die Abläufe sich nicht eingeschwungen haben, kann man schwer beurteilen, ob Ihr Vater dort richtig untergebracht ist. Wehren Sie sich aber gegen die medikamentöse Behandlung. Die machen es sich ein bißchen zu einfach. Wenn man dort mit unruhigen Demenzkranken nicht umgehen kann, sollen sie keine Demenz-WG eröffnen. Dann sind sie fachlich nicht in der Lage dazu und sollten es besser lassen, bevor sie den alten Menschen Schaden zufügen.
Daß Sie sich so schlecht fühlen, ist bedenklich. Haben Sie mal darüber nachgedacht, mit Ihrem Vater einen betreuten Urlaub zu machen? Ich selbst habe gute Erfahrungen damit gemacht - mir hilft es beim Auftanken. In der Urlaubssituation ist alles viel entspannter. Pflegekräfte kümmern sich um Ihren Vater - Sie können es aber auch selbst tun, wenn Sie möchten. Sie können mit Ihrem Vater oder auch alleine etwas unternehmen. Ganz wie Sie möchten. Mir hilft das unheimlich. Sie müssen mal raus aus der Situation, sonst gehen Sie kaputt daran.
Liebe Grüße,
Petra H.