Re: Pflegeheime und Demenz - Erfahrungen
Hallo Leona,
mal wieder eine “Nachtwache” – aber zum Benzo greife ich derzeit nicht; die hebe ich mir für härtere Sachen auf. Dafür aber leider schon die fünfzehnte „West-Silver 100“ gequalmt und zwei bis drei werden wohl noch folgen.
Was ist denn das nur für eine WG? Ich dachte, es geht dort wenigstens etwas besser zu als in dem Heim, in dem Dein Vater zuvor war.
Ich erkläre mich gerne bereit, denen mal einen Brief zu schreiben – dessen Inhalt ich selbstverständlich zuvor mit Dir über PN abstimmen würde (ich würde auch recht diplomatisch schreiben – bin ein alter abgehalfteter Beamter und denke, den richtigen Ton zu finden). Manchmal kann es ja helfen, wenn die merken, dass sie es nicht nur mit einer Person zu tun haben.
Es kann und darf so nicht weitergehen und ich bitte an dieser Stelle alle Betroffenen und LeserInnen, sich Gedanken über Unterschriftenlisten, Schreiben an ihre Bundestagsabgeordnete und dergl. zu machen (derlei ist ja leider kein Einzelfall). Ohne Kampf scheint es auch hier keinen Fortschritt zu geben – sehr traurig für einen Staat, der sich den Erhalt der Menschenwürde zum obersten Gebot seit 1949 gemacht hat (Art. 1 GG). Eigentlich habe ich als Bundesbeamter i.R. sogar die Pflicht, hier aktiv zu werden.
Ich kenne nicht die Halbwertzeit von Dipiperon, denke aber, da Dein Vater nicht über mehrere Wochen diesem Medikament ausgesetzt war, an ein baldiges Verschwinden der entspr. Wirkungen. Die leichte verbale Aggression gegen Dich (er hat Dich nicht erkannt) könnte vielleicht schon ein Anzeichen für das Nachlassen der Wirkungen sein. Immerhin vermag er anscheinend zusammenhängend zu reden, auch wenn es derzeit Unsinn ist.
Dieser Hausvermieter, von dem Du schriebst, erscheint mir wie der typische kleinkarierte Spießer. Als ob eine popelige Zufahrt oder ein popeliger Parkplatz irgend eine höhere Relevanz als die Gesundheit oder das Leben eines Menschen hätte. „Gehorsam, fleißig, geistig matt – die hab` ich satt“ (W. Biermann in seinen besseren Zeiten kurz nach seiner Ausbürgerung aus der „Täterä“). Wenn dieser Kerl auch nur einen Funken Anstand in seinem Leib hätte, hätte er Dir beim Tragen der Sachen geholfen (außerdem weiß der Typ wohl nicht, was „rechtfertigender Notstand“ bedeutet – Dein Vater benötigt doch dringend Getränke). Denn nicht Du hast Ihn, sondern er hat Dich an der Ausübung der Versorgung Deines Vaters gehindert. Liebe Leona, ärgere Dich bitte nicht über solche Typen. Die Erfahrung lehrt, dass solche Menschen an mehreren Stellen böse anecken und früher oder später ihren Meister finden werden. Schlechte Manieren setzen sich nie lange durch.
Eine höhere Pflegestufe, Behindertenstatus, usw. solltest Du aber einkalkulieren. M.E. steht Deinem Vater ein eigener Rollstuhl zu und besonderer juristischer Schutz. Vernachlässigung oder gar Misshandlung von Behinderten werden von bundesdeutschen Gerichten m.E. gerne generalpräventiv (oberes Strafmaß) geahndet (es gibt hier einen unausgesprochenen Konsens in Bezug auf unsere unselige deutsche Geschichte) – was ich sehr korrekt finde. Aber noch wollen wir nicht mit Kanonen auf vermeintliche Spatzen schießen.
Ach, Leona – mehr als diese paar solidarischen Zeilen kann ich Dir leider nicht anbieten. Ich wollte, ich wüsste besseren Rat. Das alles wird in der einen oder anderen Form ja auch auf mich noch zukommen.
Ob ein solches Leben noch lebenswert ist? Diese Frage kann ich nur für mich selber beantworten, nicht jedoch für einen anderen Menschen ohne anmaßend zu werden. Ich weiß nicht, wie sich diese Krankheit im fortgeschrittenen Stadium anfühlt. Wie weit ist noch ein Ich-Bewusstsein intakt und wie erlebt es den eigenen Körper und die Umwelt? Vielleicht leidet man ja ab einem gewissen Punkt gar nicht mehr, während die Angehörigen verzweifeln? Am Ende mag man gar jene Ich- und Gedankenlosigkeit erreichen, welche die Weisen des Ostens als große Leerheit anstreben? Ich weiß es nicht, aber das sind natürlich Aspekte, die einem möglichen Freitod meinerseits bei einer evtl. Diagnose auf Demenz entgegenwirken. Das Geschrei oder Ähnliches ist vielleicht ohne Bedeutung – eine körperliche Reflextätigkeit niederer Gehirnbereiche, ohne wirkliche Bewusstheit. So eine Art Exitationsphase wie bei den alten Äthernarkosen, als man die Patienten anschnallen musste, weil sie in dieser Phase um sich schlugen. Eines scheint jedoch festzustehen: Das Vergessen schreitet immer weiter fort. Es schreitet soweit fort, dass man immer mehr nur im Hier und Jetzt verweilt, weil jede Vergangenheit und jede Zukunft nicht mehr zugänglich sein werden. Die Dimensionen schnurren zusammen und man kommt auf den Punkt, der im Ozean des Seins versinkt – zurückkehrt. Schlimm sind m.E. besonders nur die Phasen dazwischen – die psychotischen „Einlagen“.
Die Begleitung eines unheilbar (!) Demenzkranken – und da sollten wir uns nichts vormachen – ist Sterbebegleitung. Dieser Umstand aber sollte in ganz besonderer Weise die Würde der Patienten berücksichtigen, denn es gibt nichts Schäbigeres oder Abscheulicheres, als einem Sterbenden das Leben noch schwer zu machen. Einrichtungen zur Pflege und Betreuung unheilbar Demenzkranker sind Langzeithospize und sollten auch entsprechend geführt werden (viel Trost, usw. – hier sind auch und v.a. Geistliche gefragt). Es kann und darf nicht angehen, solche Patienten per Spritze über Gebühr ruhig zu stellen. In meinen Augen ist das nicht viel anders als „Zwangseuthanasie mit Platzpatronen“; der Unterschied zur echten Euthanasie besteht nur in der Wirkung des Spritzeninhaltes, hier vertagend und „todsimulierend“ und dort final und tödlich.
Ich wünsche Dir, liebe Leona ganz viel Kraft. Denke bitte daran, dass Dein Vater, als er noch die alte Persönlichkeit war, es niemals zugelassen hätte, dass Du Dich so quälst. Versuche, die Dinge mit weniger Emotionen zu machen - ich weiß, gelingt mir selber kaum (mir fehlt z.Z. nicht mehr ein...).
Alles Liebe und Gute
Egon