Re: Wie ist "psychischer" Durchfall zu behandeln?
Hallo zusammen,
da ich nun schon häufiger private Nachrichten erhalten haben, in denen ich gefragt wurde, wie es mir mittlerweile geht, möchte ich gerne ein wenig von den letzten 1,5 Jahren berichten.
Wie schlecht es mir zu dieser Zeit ging, kann man den Beiträgen entnehmen. Ich habe damals eine Therapie begonnen, gegen die ich mich lange Zeit innerlich sehr gewehrt hatte, weil ich nicht einsehen wollte, dass ich das nicht alleine in den Griff bekomme. Nun, meine Einstellung zur Psychotherapie hat sich grundlegend geändert.

Dort gehen nicht nur psychisch schwer kranke Leute hin, dort gehen auch nicht nur ältere Leute hin. Ich habe vielmehr die Erfahrung gemacht, dass dort sehr wohl auch junge Leute in meinem Alter in Behandlung sind, was mir mein Therapeut voll und ganz bestätigte. Allerdings erzählen die meisten ihrem Umfeld nicht davon, sodass man automatisch davon ausgeht, dass es allen im Freundeskreis bestens geht und man selbst der einzige ist, der da ein Problem hat, noch dazu ein so unangenehmes...
Ich habe insgesamt ca. 15 Sitzungen beim Therapeuten gehabt, in denen es zum einen darum ging, mir abzugewöhnen, dass ich mir so einen Kopf darum mache, was andere denken, wenn ich häufiger zur Toilette muss. Das ist mir richtig schwer gefallen. Bis heute ist es mir noch teilweise unangenehm, wenn ich mit Freunden unterwegs bin und sagen muss: Hey, wir müssen jetzt leider alle zusammen eine Pause auf dem Rasthof einlegen, da ich zur Toilette muss. Aber wenn man sich das mal ganz objektiv anschaut, ist das überhaupt nichts schlimmes. Wäre ich es nicht, würde einer der anderen ein wenig später darum bitten, eine kurze Pause einzulegen. Auch in jeglichen anderen Situationen ist es keine Schande, um eine kurze Pause zu bitten, ganz gleich, um welche Situationen es sich nun handelt - privat oder beruflich. Das war zumindest in meinem speziellen Fall ein ganz wesentlicher Aspekt. Es ist egal, was andere denken! Ich will nicht behaupten, dass ich das vollends verinnerlicht habe, aber zumindest im privaten, häufiger auch im beruflichen Bereich gelingt es mir ganz gut!
Ein weiterer Aspekt war der, zu akzeptieren, dass das alles psychisch ist. In der Anfangszeit bin ich noch von Arzt zu Arzt gelaufen in der Hoffnung auf eine körperliche Ursache. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mein Gehirn dazu in der Lage ist, mir 20 Mal am Tag Durchfall zu bescheren. Dies war aber so. Ich hatte sämtliche Test bezüglich Unverträglichkeiten absolviert, Magen- und Darmspiegelung(en) hinter mich gebracht und bis auf eine Unverträglichkeit, von der ich aber schon wusste, gab es keine neuen Erkenntnisse. Damals war ich richtig deprimiert, dass nichts organisches gefunden wurde. heute bin ich froh, dass nichts organisches gefunden wurde. :-D Denn das psychische ließ sich behandeln.
Der dritte Aspekt war dann das Thema Entspannung. Ich fing an, jeden zweiten Tag Achtsamkeitsübungen zu machen. Dazu gibt es gute CDs zu kaufen. Am Anfang fiel mir dies wahnsinnig schwer. Ich setzte mich bewusst jeden zweiten Tag für eine Stunde hin (viel Zeit, ich weiß...) und macht diese Übungen. Das Schwere daran war, dass ich mich in dieser zeit nicht ablenken konnte. Egal, was der Sprecher auch sagte, ich bezog alles auf meinen Bauch, war permanent auf meinen Bauch fokussiert. Nach einigen Monaten jedoch ließ das nach. Ich konnte mich gut auf seine Worte konzentrieren, gut abschalten, dachte mal eine Minute nicht an meinen Bauch, dachte mal 5 Minuten nicht an meinen Bauch, dachte mal 15 Minuten nicht an meinen Bauch. Insgesamt war der Gedanke, dass ich mich kaum noch mit Freunden treffe, in keinen Zug und keinen Bus steige und meinem Auto, das schon etwas älter ist, ebenfalls nicht mehr so ganz traue, dennoch überwiegend präsent. Die Achtsamkeitsübungen sind für mich persönlich aber nur ein Aspekt von den vielen gewesen.
Das Entscheidende war jedoch, die Angst zu überwinden. Von einem auf den anderen Tag nahm ich mir vor, kein Imodium mehr zu nehmen, da ich wusste, dass sie mir schaden. Es war wichtig, klein anzufangen und das Ganze auch bei Rückschlägen zu steigern. ich fing an, mit meinem Freund im Auto zu fahren. Zunächst fuhren wir einfach mal eine halbe Stunde durch die Stadt. Ich wusste stets: In 30 Minuten bist du wieder zu Hause, außerdem sind hier überall Restaurants, etc. Dann fuhren wir etwas länger durch die Stadt. Dann machten wir mal einen Spaziergang, bei dem ich es aushalten musste, zu wissen, dass ich nun mindestens 30 Minuten laufen muss, um wieder auf unserer Toilette zu sein. Ich war während dieser Spaziergänge extrem nervös. Mir war heiß, ich hatte Herzrasen, ich dachte permanent, dass das jeden Moment schief geht. Erst als ich wusste, dass wir die Hälfte der Strecke erreicht hatten und wir uns nun ja wieder unserer Wohnung näherten, ließ das Ganze wieder nach. Dann machten wir Spaziergänge 1,5 Stunden, dann von 2 Stunden. Nachdem ich die 2 Stunden geschafft hatte, wusste ich, dass so ein 30 Minuten Spaziergang ja ein Klacks ist, was dazu führte, dass ich den kompletten kleinen Spaziergang völlig entspannt war, auch wenn wir uns noch auf dem Weg "weg von unserer Wohnung" befanden. Nach diesem Schema baute ich auch meine anderen Aktivitäten wieder aus. Zunächst fing ich damit an, mich wieder mit meinen engsten Freunden zu treffen. Ich erzählte diesen ganz offen von meinem Problem. Diese Treffen fanden natürlich bei uns zu Hause statt, in ein Restaurant oder auf Partys wäre ich zu der Zeit nicht für Geld gegangen... Ich musste also "aushalten" lernen, dass Besuch da war, der mitbekam, wenn es mir schlecht ging. Anfangs musste ich dann tatsächlich noch häufig zur Toilette und die Treffen waren eher anstrengend als angenehm. Ich war jedes Mal froh, wenn alle wieder weg waren und ich meine Ruhe hatte. Aber ich habe bewusst versucht, jede Woche Freunde einzuladen, damit das nicht abreißt. Und von Mal zu Mal fühlte ich mich wohler, musste seltener zur Toilette, wurde entspannter, konnte die Treffen wieder genießen. Dann irgendwann war ich mit meinem Freund in einem Einkaufszentrum. Wir wollte in einem quasi- Schnellrestaurant eine Pizza essen, auf die man allerdings warten musste. Wir setzen uns hin, bestellten etwas zu trinken und warteten. Ich wurde wahnsinnig nervös, bekam wieder Hitzewallungen, Bauchschmerzen, musste zur Toilette, zwang mich aber durchzuhalten, mein Essen aufzuessen und danach war ich irre stolz und bin weiter shoppen gegangen. Danach gingen wir zu zweit in ein normales Restaurant, was insgesamt knapp zwei Stunden dauerte und ebenfalls eher als Arbeit als Entspannung war. ;-) Aber je öfter wir essen gingen, desto sicherer wurde ich. Irgendwann gingen wir dann auch wieder mit Freunden essen. Ich habe mir damals eine Liste gemacht und aufgeschrieben, vor welchen Dingen ich Angst habe, weil ich dort Durchfall bekommen könnte. Dann fing ich an, diese Dinge in Kategorien einzuteilen und an jeder dieser Kategorien mit winzigen Schritten anzufangen. Ganz entscheidend war das konstante Steigern. Hatte ich mal zwei Wochen keine Termine, musste ich wieder mit mehr Aufregung rechnen. Zum Thema Uni ist noch zu sagen, dass ich Ewigkeiten keinen Fuß in die Uni gesetzt habe. Auch dies musste sich ändern, sodass ich zunächst nur mal mit dem Auto hinfuhr und wieder nach Hause. Dann ging ich in das Gebäude, dort zur Toilette und fuhr wieder nach Hause. Dann traf ich mich dort mit meinen Freunden und sagte, dass es mir nicht gut ginge, ich also am Rand sitzen möchte, um schnell wieder raus zu können. Und ich musste raus.... aber je öfter ich das machte, desto leichter fiel es mir. Und heute kann ich sagen, dass ich mein Studium bald beenden werde, da ich in den vergangenen 6 Monaten wieder ganz normal studieren werde, im kommenden Frühling mein Examen mache und dann hoffentlich Juristin bin.
Um das nochmal zusammenzufassen: Es ging mir so schlecht, dass ich zuweilen daran dachte, dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Ich sah keine Möglichkeit, mein Studium zu beenden, erst recht schien es mir nicht möglich, jemals in irgendeinem Beruf arbeiten zu können, der nicht von meiner Wohnung aus durchzuführen wäre. Dies alles entwickelte sich innerhalb von wenigen Wochen, obwohl ich davor ein fröhlicher Mensch mit einem großen Freundeskreis, einer fantastischen Familie und keinerlei erwähnenswerten Problemen war... Nachdem ich die Therapie anfing, mit meinem Therapeuten über Gott und die Welt sprach (also gar nicht ausschließlich über dieses "Problem"), die Achtsamkeitsübungen machte und mich vor allen Dingen stetig steigend der Angst aussetzte und sie trotz Herzklopfen, Durchfall, Hitzewallungen (eben akuter Panik) aushielt, kann ich heute sagen, dass ich wieder ein weitgehend normales Leben führe. Nachdem ich ganz klein angefangen hatte, kann ich heute wieder zur Uni gehen, Freunde auswärts und zu hause treffen, nach Indonesien in den Urlaub fahren (also auch ein Flugzeug besteigen

) und endlich wieder glücklich sein. Ich denke noch fast täglich an dieses "Problem" und auch in der Uni, bei Freunden oder im Bus ist das noch manchmal präsent, aber dann bekomme ich kurz Herzklopfen, erinnere mich daran, dass es gar keinen Grund gibt sich aufzuregen, da ich schon ganz andere Sachen "ausgehalten" habe und andere Situationen überstanden habe und dann legt sich das mit wenigen Minuten auch wieder. Was ich dazu sagen muss: Ich würde mich jetzt nicht Situationen aussetzen, in denen ich wüsste, dass garantiert keine Möglichkeit besteht, auf die Toilette zu gehen. ich fahre beispielsweise wahnsinnig gerne in Urlaub, aber eine Autofahrt durch eine Wüste, in der kein Busch und kein Klohäuschen ist, käme auch für mich noch immer nicht in Frage. Damit kann ich aber leben. Psychischer Durchfall lässt sich nämlich auch dann noch prima einhalten, wenn man denkt, dass es nur wenige Sekunden gut geht. Das ist ein subjektives Gefühl, dass nicht der Beschaffenheit des Darmes entspricht (mal akute Erkrankungen außen vor gelassen). Darum lassen sich Zugfahrten, Busfahrten und Autostaus (!! auf unbestimmte Zeit!!) dennoch gut aushalten und es ist keine Schande, einem Auto- oder Busfahrer zu sagen, dass er doch bitte mal rechts ranfahren muss.
Das war meine ganz persönliche Erfahrung und ich bin unendlich glücklich, dass es mir so geht, wie es mir heute geht, weil ich vor 1,5 Jahren nahezu überzeugt davon war, dass es mir nie wieder so gut gehen würde, ich nie wieder so unbeschwert sein würde.
Ich wünsche denjenigen, die mir geschrieben haben, und anderen, die solche Probleme entwickelt haben, alles Gute und ganz viel Mut, Schritt für Schritt zu gehen. Denn das war (zumindest für mich) das A und O!