RE: Was man heute im Deutschunterricht lernt
Was heißt Leidensdruck?
Es ist nicht eben schön, in Mathe ständig im hinteren Drittel zu krabsen und mit Zeitdruck durch die Aufgaben zu hechten, weil jeder Schritt immer mit dieser Versagensangst im Nacken gerechnet wird. Sie hat inzwischen etwas an Zuversicht in diesem Fach gewonnen, weil ihre Tutorin, bei der sie Förderstunden belegt hat seit ungefähr Oktober/November letzten Jahres, ihr schon einiges begreiflich machen konnte, was sie im Unterricht nicht verstanden hatte.
Vielleicht sollte ich erwähnen, dass Lisa mit einer 3 als Vornote in Mathe auf's Gymnasium gewechselt ist und ansonsten 2er und 1er gewohnt war. Mathe war immer schon ihr schwächstes Fach. Mit einer Durststrecke habe ich da absolut gerechnet. Die ersten Zeugnisse schwankten zwischen 3 und 4, das fand ich OK. Leider war's dann im letzten Halbjahr eine satte 5. Wie gesagt war nun die letzte Arbeit positiv für ihre Verhältnisse.
Worunter leidet sie? Sie leidet nicht unmittelbar darunter, dass sie mal irgendwo eine 5 schreibt, was ihr in Deutsch jedoch wirklich dramatisch auf's Gemüt geschlagen ist, denn da ist sie stets gut gewesen. Selbst die Lehrerin hat gesagt, dass das wirklich unerwartet übel gelaufen ist. Und sie hat gemeint, dass die Klasse bisher bravouröse Leistungen gebracht hat und jetzt insgesamt um gut eine Note abgesackt ist (was wohl über alle Fächer hinweg der Fall ist - frag mich nicht wieso).
Am meisten leidet sie unter der Uneinigkeit im Klassenverband, unter dem Mobbing, unter der Unfairness mancher Mitschüler aber auch Lehrer. Sie ist eh ein eher stilleres Mädchen. Bei manchen Lehrern sagt sie gar nichts mehr im Unterricht, weil sie Angst hat, ausgelacht oder heruntergemacht zu werden. Sie weiß, dass sie nur mit Fragen durchkommt, mit Selbstbehauptung, aber genau da hat sie Defizite. Etwas mehr Engagement wäre sicher schön. Wenn ich sehe, wie liebevoll sie ihre Hefte/Mappen für Erdkunde oder Geschichte gestaltet, dann geht mir das Herz auf. Die Noten sind entsprechend gut.
Warum knie ich mich so rein?
Mein Vater hat immer gesagt, ich solle mal studieren, damit ich es besser habe als er. Mich hat das genervt. Ich habe dann doch nicht studiert, was ihn sehr bekümmert hat, wie ich weiß. Klar versuche ich meinem Kind die bestmögliche Bildung zu ermöglichen. Sie soll ihren Lebensweg wählen können. Die Wahl hat sie nur, wenn sie sämtliche Möglichkeiten hat. Das ist das Prinzip. Hätte auch nur der leiseste Zweifel bestanden, dass Lisa das Gymnasium schaffen könnte, ich hätte sie niemals dort angemeldet. Wir haben in NRW Gesamtschulen, da kann sie nach ihren Potentialen jeden Abschluss machen, ob nun einen, der zum Studium befähigt oder einen anderen. Es ist ja nicht klar - wie sollte es auch -, was sie mal machen möchte, wenn sie die Schule hinter sich hat. Es gab in meiner Schulzeit einige, die nicht einmal bis zum Ende weitermachen durften, weil sie nach Ansicht ihrer Eltern doch heiraten und Kinder in die Welt setzen würden, was ein Abitur nicht notwendig erscheinen ließ. Ich halte eine höhere Schulbildung nicht für ein Allheilmittel, aber für erstrebenswert, wenn es dem Potential entspricht.
Bisher bin ich davon ausgegangen, dass dieses Kind dieses Potential in sich hat. Vielleicht habe ich mich geirrt. Ich werde nicht auf Biegen und Brechen an einem Irrtum festhalten, nur um zu beweisen, dass doch geht, was ich mal geplant hatte (wobei geplant an dieser Stelle witzig ist: wie plant man den Werdegang eines 9-jährigen Kindes? Diese Entscheidung so früh treffen zu müssen, ist ein Unding!).
Sie soll alle Chancen haben, aber wahrnehmen muss sie sie selbst. Unwillen kann ich nur schlecht akzeptieren, wobei Lisa ja immer wieder bekundet, gewillt zu sein. Unvermögen akzeptiere ich dagegen jederzeit. Hier wird nicht über Noten lamentiert. Hier wird in der Regel nach Lösungswegen gesucht und nach Fehlerquellen. Die Frage ist: wie unterscheidet man Unvermögen von schlichter Demotivation?
Verstehst Du mein Dilemma?
Grüße
Anke