Moin Natureboy
Du machst überhaupt nichts falsch: Das geht mir phasenweise genauso mittlerweile. Und ich kenne noch jemanden aus dem Forum hier in unserem Alter, ebenfalls männlich, dem genauso ging/geht.
Das scheint also - leider - ziemlich normal zu sein.
Ich hab vor anderhalb Jahren einen meiner besten Freunde in der Nähe von Innsbruck besucht, der dort vor zwei drei Jahren hingezogen ist. Während des Studiums haben wir uns wenigstens zwei- dreimal die Woche gesehen, sind abends regelmäßig ein Bierchen trinken gegangen, am Wochenende haben wir uns häufig bei unserer Lieblingspizzeria getroffen. Wirklich einer meiner zwei, drei besten Freunde, denen ich blind sofort alles und jeden anvertrauen würde und auf den ich mich 100% verlassen könnte, wenn es erforderlich würde.
Doch genug der Vorrede - auf jeden Fall bin ich dort also im Oktober 2016 hin. Auf dem Weg zum Flughafen ging's mir noch gut, im Flieger auch. Im Fernbus von München nach Innsbruck dann schleichend immer weniger, bis mir nach der halben Strecke etwa ziemlich schwindlig war. Vor Ort angekommen, als er mich dann vom Busbahnhof abholte, war der Schwindel zwar recht bald weg, aber ich hab ich mich arg unruhig und neben der Spur gefühlt. Waren extra aufgrund der alten Zeiten lecker Pizza essen, das hat mich auch etwas beruhigt - aber trotzdem habe ich mich den ganzen Rest des Tages nicht 100% wohl gefühlt... immer wieder leichte Depri- und Angstschübe, trotz 30 mg Fluoxetin seit Mitte 2014.
Die beiden Tage darauf ging es auch nicht sehr viel besser. Was nicht heißen soll, daß es mir ausgesprochen schlecht ging - ich konnte auch lachen und hatte meine ruhigeren Momente. Aber unter'm Strich stand ich doch unverhältnismäßig viel von der Zeit latent "unter Strom", hatte auch immer wieder Magendrücken, mein Gedankenkarussell machte, was es wollte, usw.
Und das alles in einem quasi geschützten, privaten Umfeld, wie oben gezeigt (und daher auch die ausführlichere Vorrede) einer meiner besten Freunde.
Ähnlich erging es mir letztes Jahr während zweier beruflicher Seminare, und die waren gerade mal 100 bzw. 40km von Zuhause entfernt. Ok - da kam noch der berufliche Streß on top, das war natürlich keine Freizeit. Aber noch vor vier fünf Jahren bin ich durch solche Seminartage relativ entspannt und locker durch. Jetzt... ?!?! :-O
Ich versuche, mich wirklich immer mehr frei davon zu machen, daß ich etwas falsch machen würde! Ich mache - im Rahmen meiner Möglichkeiten - alles richtig!
Es ist die moderne Umwelt und das moderne, gesellschaftliche Umfeld, für das der Mensch meiner Auffassung nach schlichtweg nicht mehr geeignet ist: Kein Lebewesen auf der Welt ist für diese Form des Lebens und des Dauerstresses, den wir alltäglich erleben, gemacht - das hinterläßt leider seine Spuren in den neurologischen Netzen des Gehirns etc.
Ich hab's die Tage in nem Thread von VSV mal etwas ausführlicher beschrieben, will es jetzt hier nicht komplett wiederholen:
Link (2. Seite, ganz unten aktuell)
Aber unter'm Strich ist es so:
Wir moderne Menschen machen mit uns nichts anderes als wir es mit Tieren im Zoo tun: Wir halten uns selbst quasi nicht artgerecht in goldenen Käfigen, machen uns ne Menge Streß für alle möglichen (aus natürlicher Sicht gesehen größtenteils überflüssiger) Annehmlichkeiten, und werden gleichzeitig immer älter - und zwar älter, als wir es in der "freien Wildbahn" unter rein natürlichen bzw. natürlichereren Bedingungen werden würden. Ähnlich eben, wie es auch vielen Zootieren in Gefangenschaft geht: Sie werden zwar gut umsorgt, bekommen regelmäßig ihre Fütterung frei Haus, haben teils schlechtere, teils bessere Gehege, teils mit Spielzeug, teils ohne Spielzeug, usw., und werden mitunter um einiges älter als ihre Artgenossen in der Natur. Aber wenn man sie den ganzen Tag unruhig in ihren Käfigen umhertigern sieht oder in ihre Augen guckt, dann weiß man, daß so ein goldener Käfig eben nicht alles ist...
Ich will unser menschliches, zivilisiertes Leben damit nicht verteufeln, und auch nicht unsere gestiegene Lebenserwartung.
Aber eine solche Sichtweise hilft mir persönlich dabei, meine momentanen "Leiden" besser zu akzeptieren und immer wieder zu erkennen, daß ich alles richtig mache - bzw. im eigentlichen Sinne nichts falsch mache: Solange ich es nicht schaffe, aus dem Hamsterrad hier und da oder sogar komplett auszusteigen, wird es genauso weitergehen wie es aktuell läuft. Ganz einfach, weil diese Art von Leben im Dauerstreß nicht meinem Wesen entspricht (und eben sehr sehr wahrscheinlich auch Deinem nicht und dem vieler vieler anderer Betroffenen auf diesem Planeten). Das heißt aber eben nicht zwangsläufig, daß ich etwas falsch machen würde - sondern es sind einfach die logischen und zwangsläufigen Konsequenzen dieser Lebensführung.
Was glaubst Du, warum es immer mehr Firmen gibt, die ihren Mitarbeitern ein halbes Jahr Sabbatical anbieten? Warum ziehen sich bspw. viele Isländer für rund 1-3 Monate im Jahr komplett aus dem Arbeitsleben zurück, manch einer, der es sich leisten kann, wohnt in der Zeit sogar allein in einer fernen Hütte mitten im Nirgendwo, auch fernab der Familie?
Noch am Samstag habe ich vom Teilnehmer des Meditationskurses erfahren, daß die Deutz AG rund 2 Mio € in den Ausbau von sozialen Entspannungsräumlichkeiten für ihre Mitarbeiter investiert, ein wenig nach dem Vorbild von Google & Co.! Wenn schon die Deutz AG, ein traditionsreiches deutsches Maschinenbau-Unternehmen!, diesen Weg geht...
Kurz:
Der Fehler, Natureboy, liegt im System!
Nicht in uns, nicht in mir, nicht in Dir. Er liegt im System.
Die einzige Frage, die wir uns dabei nur stellen können, ist: In welcher Form, bis zu welchem Punkt passen wir uns dem System an? Wo schaffen wir es, uns davon zu distanzieren und uns unsere Freiräume zu schaffen?
Such den Fehler nicht bei Dir, Natureboy, Du machst das alles richtig. Vertrau dir! Höre auf Deine innere Stimme. Gib Dir Zeit, Ruhe und übe Dich in Gelassenheit.
(PS: Mir ging's von Freitag bis Sonntag auch arg mittelprächtig; ist also nicht so, als wäre bei mir grad alles gut

Aber wie gesagt: Solche Sichtweisen helfen mir, die Schuld nicht bei mir zu suchen und mit den ganzen Symptomen wenigstens ein bißchen gelassener umzugehen.)
Ich meine das alles übrigens auch ohne Verbitterung oder Zorn auf das "System" - die Dinge sind nunmal so, wie sie sind. Die Weichen hierzu wurden schon sehr viel früher gestellt, zu Zeiten, als niemand so richtig absehen konnte, wohin das vielleicht mal führt.
Aber die Weisheit, die heutzutage immer mehr Menschen diesbezüglich erlangen, kann und sollte dazu beitragen, daß jeder von uns im Rahmen seiner Möglichkeiten lernt, den Teilen des Systems den "Stinkefinger" zu zeigen, die ihn krank machen. Man muß nicht jeden Schei* bis zum letzten Exzess mitmachen. Was geht, geht. Was nicht (mehr) geht, geht eben nicht mehr. Punkt.
Take it. Change it. Or leave it.
Gute Besserung

Und sei nachsichtig mit Dir
LG, und einen schönen weiteren Winterurlaub. Den hast Du Dir verdient!

Alex