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Störungen des Orgasmus
Erscheinungsbild, Kernmerkmale und Phänomenologie
Wohl aufgrund guter Objektivierbarkeit des Orgasmusphänomens stand die Orgasmushemmung bei den weiblichen sexuellen Funktionsstörungen traditionell im Vordergrund sexualtherapeutischer Aktivität. Bei der reinen Form dieser Störung erlebt die Frau Lust zu Sexualität, genießt genitale Aktivität und entwickelt ausgeprägte sexuelle Erregung, doch reicht die Erregungssteigerung trotz ausreichender Intensität und Dauer der Stimulation nicht aus, um die individuell unterschiedliche Orgasmusschwelle zu überwinden. Häufig beklagen Patientinnen, dass ihre Erregung „auf einem Punkt stehen bleibt". Auffällig ist die große Bandbreite weiblicher Orgasmuskapazität: Einige Frauen können bei keiner sexuellen Praktik einen Orgasmus erleben, andere sind zwar durchaus orgasmusfähig, meistens bei Selbstbefriedigung, nicht aber bei Koitus oder anderer Partnerstimulation - als würde die Anwesenheit des Part¬ners den Höhepunkt blockieren. Die klinisch¬diagnostischen Leitlinien des ICD-10 (WHO 1993) definieren unter
Orgasmusstörung (F52.3)
„Der Orgasmus tritt nicht oder nur stark verzöööööögert ein. Dies kann situativ, d.h. nur in bestimmten Situationen, mit psychogener Verur¬sachung, oder ständig auftreten. Bei ständig vorhandener Orgasmusstörung können körper¬liche oder konstitutionelle Faktoren schwer aus¬geschlossen werden, außer durch eine positive Reaktion auf eine psychologische Behandlung. Orgasmusstörungen finden sich bei Frauen häu¬figer als bei Männern".
Als Ergänzung beschreiben die Forschungskri¬terien des ICD-10 (WHO 1994) folgende Varia¬tionen:
1. Ein Orgasmus wurde niemals, in keiner Situ¬ation erlebt.
2. Die Orgasmusstörung ist nach einer Zeit rela¬tiv normaler sexueller Reaktionen aufgetreten
a. generell: die Orgasmusstörung tritt in allen Situationen und mit jedem Partner auf
b. situativ: bei Frauen: in bestimmten Situatio¬nen kommt es zum Orgasmus (z.B. bei der Masturbation oder mit bestimmten Partnern)".
Diese Kategorisierung geht (bis auf die Be¬nennung hypothetischer Ursachenfaktoren als psychisch oder organisch) über die formalen Beschreibungsmerkmale primär/sekundär bzw. global/situativ kaum hinaus.
Eine weit umfassendere diagnostische Be¬schreibung liefert das amerikanische DSM-III-R (APA 1987) und das nachfolgende DSM-IV (APA 1994). DSM-III-R beschreibt ausführlich unter 302.73 den gehemmten Orgasmus bei der Frau „als anhaltende oder wiederkehrende Verzögerung oder Fehlen des Orgasmus bei der Frau nach einer normalen sexuellen Erregungs¬phase, wobei die sexuelle Aktivität vom Kliniker hinsichtlich ihrer Zielrichtung, Intensität und Dauer als ausreichend beurteilt wird. Manche Frauen können bei nichtkoitaler Klitorisreizung einen Orgasmus erleben, erreichen diesen je¬doch nicht beim Koitus ohne manuelle Stimu¬lation der Klitoris. Bei den meisten dieser Frau¬en stellt dies eine normale Variation der weibli¬chen Sexualreaktion dar und rechtfertigt die Diagnose gehemmter Orgasmus bei der Frau nicht. Dennoch handelt es sich bei einigen die¬ser Frauen um eine psychische Hemmung, wel¬che die Diagnose rechtfertigt. Diese schwierige Entscheidung wird erleichtert durch eine gründ¬liche sexuelle Abklärung, die auch einen Be¬handlungsversuch erfordern kann." (dt. Aus¬gabe: 359)
DSM-TV ergänzt, dass bei Frauen eine große Variabilität hinsichtlich Art oder Intensität der Stimulation besteht, die zum Orgasmus führt. Die Diagnose sollte auf der klinischen Einschät¬zung beruhen, dass die Orgasmusfähigkeit der Frau geringer ist als für Alter, sexuelle Erfah¬rungen und Stimulationsart zu erwarten. Da die Orgasmusfähigkeit bei Frauen mit dem Alter ansteigt, ist die weibliche Orgasmusstörung bei jungen Frauen wahrscheinlich häufiger. Die meisten weiblichen Orgasmusstörungen treten eher lebenslang als erworben auf:
Wenn eine Frau einmal gelernt hat, wie sie zum Höhepunkt kommen kann, dann ist es ungewöhnlich, dass sie diese Fähigkeit wieder verliert, wenn nicht die sexuelle Kommunikation verarmt oder ein Beziehungskonflikt, eine traumatische Erfah¬rung (z.B. Vergewaltigung), eine affektive Stö¬rung oder eine körperliche Erkrankung auftre¬ten. Viele Frauen verbessern ihre Orgasmus¬kapazität, wenn sie eine breitere Stimulations¬vielfalt erfahren und ihren Körper besser ken¬nenlernen.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die westlichen Kulturen historisch mehr am Ergebnis weiblichen Sexualverhaltens (Schwanger¬schaft) interessiert waren als an der sexuellen Reaktionsfähigkeit der Frau. Wohl um unwäg¬baren Faktoren, z.B. im Hinblick auf Geburt/unbekannten Vater, vorzubeugen, wurde weibli¬ches Sexualverhalten strengen Regeln unter¬worfen (s. Heiman & Grafton-Becker 1989). Im viktorianischen Zeitalter des 19. Jahrhunderts hatten „gute" Frauen rein und asexuell zu sein. Starke sexuelle Aktivität bei Frauen galt als be¬handlungsbedürftig - im Gegensatz zur heuti¬gen westlichen Kultur, in der sexuell gehemmtes Verhalten als therapiebedürftig bewertet wird. Erst die Jahrhundertwende brachte mit Freud (1905) eine Hinwendung zur weiblichen sexuel¬len Reaktionsfähigheit. Wenn Freud auch das Vorhandensein des weiblichen Orgasmus aner¬kannte, so implizierte seine Präferierung des va¬ginalen über den klitoralen Orgasmus doch im¬merhin, dass die der Fortpflanzung dienende sexuelle Praktik kulturell von höherem Wert sei. Die Praktikabhängigkeit spielt gerade bei die¬ser sexuellen Funktion oder ihrer Dysfunktion im Rahmen von Diagnostik und Behandlung eine große Rolle - ist doch das Orgasmuspro¬blem historisch mit eingreifenden sexualideolo¬gischen Vorstellungen befrachtet.
Seit Freud die Überlegenheit des „reifen" va¬ginalen Orgasmus über den minderwertigen und „unreifen" klitoralen Orgasmus postulierte, durchzieht die sexualideologische Kontroverse von klitoralem vs. vaginalem Orgasmus die psy¬choanalytische Theorie, die Literatur der Frau¬enbewegung und die empirische Sexualwissen¬schaft. Auch wenn die Forschung Freuds These widerlegte und Masters & Johnson (1966) an¬hand ihrer Ergebnisse nachwiesen, dass fast alle Orgasmen Ausdruck desselben neurophysiolo¬gischen Prozesses darstellen und durch klitora¬le Stimulation (direkt oder indirekt) ausgelöst werden, durchzieht die Forderung nach dem va¬ginalen Höhepunkt bis heute die gesellschaftli¬chen Vorstellungen und beschwert das Sexual¬leben auch vieler heutiger Paare. Da nützte es auch nichts. wenn z.B. Sichtermann (1986) po¬lemisch formulierte: .,Ein Orgasmus, wenn er zustandekommt, hat immer eine Geschichte, die Geschichte eines Begehrens und einer Erre¬gung, und wenn eine solche Geschichte gelebt worden ist, dann ist es zweitrangig, wo die Sti¬mulierung erfolgt; [ ...] dann kommt der Orgas¬mus, und sei es - ich übertreibe - der große Zeh, an dem die Frau stimuliert wird"
Allerdings geben Frauen an, dass sie den durch klitorale Stimulation erreichten Orgasmus als nicht so beglückend wie den , koitalen Orgasmus erleben. Dies wird jedoch in stärkerem Maße mit der psychologisch unterschiedlichen Situation und Bewertung erklärt als mit der Technik der Stimulation.
Zwar gilt der in der Partnerschaft herbeigeführ¬te Orgasmus gegenüber dem durch Selbstbefriedigung ausgelösten als höherwertig, doch muss der Partner über subtile Kenntnisse und Erfahrungen verfügen, damit die Frau den Or¬gasmus ohne Unterbrechung und Störung ihrer Erregungssteigerung erreichen kann (Mutke 1984).
Wir orientieren uns heute an dem Modell einer individuell unterschiedliche Orgasmusschwelle bei Frauen (Kaplan 1987), wobei ne¬ben taktiler Stimulation auch weitere Einfluss¬faktoren (psychologische Hemmungen, Drogen, emotionale Zustände) wirksam sind. Die Or¬gasmusfähigkeit gilt als verteilt in Form einer Glockenkurve: an dem einen Pol befinden sich Frauen, die nie einen Orgasmus erlebten, ge¬folgt von Frauen, die nur vom Partner „ungestört", durch Selbstbefriedigung, einen Höhe¬punkt erreichen können; weiter zur Mitte liegen Frauen, die mit gezielter klitoraler Stimulierung in Gegenwart des Partners orgasmusfähig sind oder Frauen, die längere koitale Stimulation dazu benötigen (das ist der bevorzugte Bereich aller Histrionikerinnen); im höheren Bereich befinden sich Frauen. die durch Koitus schnell orgasmus¬fähig sind, und am Endpol Frauen, die allein Phantasietätigkeit oder Bruststimulation zur Auslösung des Höhepunktes benötigen.
Bei Frauen, die an den Endpunkten der Skalen lie¬gen, gilt die diagnostische Zuordnung zu ge¬stört/ungestört als unstrittig. Eine kontroverse Bewertung ergibt sich bei den Frauen im mittle¬ren Spektrum der Orgasmusschwellen je nach den zugrunde gelegten Orgasmuskriterien und der Bewertung, die der benötigten Stimula¬tionsform zugeschrieben wird.
Die heutige For¬schung stellt in Zweifel, ob es pathologisch ist, wenn eine Frau klitorale Stimulation bevorzugt oder benötigt, um einen Orgasmus zu erreichen. Kaplan erklärt dezidiert, sie betrachte Frauen „als normal, die im Zusammensein mit ihren Partnern bei lilitoraler Stimulierung orgastisch sind" (1987: 35).
Frauen benötigen im allgemeinen eine länger ¬dauernde Stimulation hinsichtlich Vorspiel und Koitus als Männer, um zum Höhepunkt zu gelangen. Für Masturbation scheint dieses nicht zu gelten. Allerdings verfügen Frauen über eine viel größere Variationsbreite sexueller Stimuli, die zum Orgasmus führen. Sie benötigen jedoch oft eine jahrelange Lernphase, um die für ihren Erregungsaufbau adäquaten Stimulationstech¬niken zu erkunden. Frauen mit der Fähigkeit zu multiplen Orgasmen behalten diese Reaktions¬möglichkeit ein Leben lang. Für die weibliche reproduktive Rolle stellt der Orgasmus keine Voraussetzung dar, während der Mann für die Fortpflanzung auf Orgasmus/Ejakulation ange¬wiesen ist (Hertoft 1989).
In der Regel wird der gelegentlich ausbleiben¬de Orgasmus nicht als Problem erlebt, es sei denn, es kommen eigene oder fremde Normen, Erwartungen und Orgasmus-Mythen ins Spiel.
Diese gehen oft einher mit Zweifeln der Frau an ihrer weiblichen und sexuellen Kompetenz, da sie sich anderen Frauen unterlegen fühlt, oder mit Hilflosigkeit des Partners, der sich in seiner Männlichkeit verunsichert fühlt, wenn trotz zärtlicher und geduldiger Mühegabe der Orgas¬mus der Frau ausbleibt. Und selbst wenn er der Frau gelingt, sollte er zeitgleich mit dem des Partners eintreten - eine immer noch verbreite¬te Norm, die weiterhin das Sexualleben vieler Paare belastet. Leider resultiert daraus nicht sel¬ten, dass Frauen einen Orgasmus vortäuschen - eine kurzfristige Entlastung, welche die Frau jedoch ihrem eigenen Erleben entfremdet und ihre grundsätzlichen Probleme nicht löst. Dar¬ling & Davidson (1986) berichteten, dass 5814 ihrer Versuchspersonen bereits einen Orgasmus vorgespielt hatten, sei es, um den Partner nicht zu enttäuschen, sei es aus Angst, als sexuell un¬fähig zu gelten, oder um unangenehmen Koitus abzukürzen. In der Tat haben Männer es schwer zu erkennen, ob die Frau beim Geschlechtsver¬kehr einen Orgasmus erlebt. Michael et al. (1994) berichteten, dass 44°/ö ihrer männlichen Studienteilnehmer annahmen, die Partnerin sei immer zum Höhepunkt gelangt, während dies nur 2914 der Frauen selbst angaben. Dagegen schätzten die Frauen ihre Partner korrekt ein.
Obwohl weibliche Sexualfunktion und Zu¬friedenheit in der Forschung häufig vom Orgasmuskriterium determiniert wird, scheinen viele Frauen eine Sexualität zu bevorzugen, die nicht unbedingt zum Orgasmus führt, wodurch sie in der heutigen orgasmuszentrierten Kultur leicht in Konflikt mit ihren eigentlichen Bedürfnissen geraten können. Masters & Johnson (1966) fan¬den zwar heraus, dass die physiologisch intensiv¬sten Orgasmen durch Selbstbefriedigung ent¬standen, doch bewerten viele Frauen Part¬neraktivitäten, unabhängig vom Orgasmus¬erleben, als begehrteste und befriedigendste Aktivität. Die nicht partnerbezogene Selbstbe¬friedigung wird dagegen häufig als unnormal oder als nur halbwertiger Ersatz empfunden. Hite (1977) befragte Frauen nach ihrem größten Vergnügen beim Sex. Am häufigsten wurde benannt: „Emotionale Intimität, Zärtlichkeit, Nähe, Gemeinsamkeit, tiefe Gefühle mit einer geliebten Person" (597).
Wenn auch im Hite-Report (1977) die meisten Frauen äußerten, dass ihnen beim Sex emotionale Intimität, Zärtlichkeit und tiefe Gefühle für eine geliebte Person am Wichtigsten seien, zeigen kli¬nische Erfahrungen, dass viele Frauen diese Gefühle nicht durch Sexualität zu erfahren suchen. De sexualmedizinische Behandlung zielt deshalb darauf ab, eine Verbindung zwischen diesen Grundbedürfnissen und der Sexualität herzustellen.
Michael und Mitarbeiter (1994) resümierten in ihrem amerikanischen Report über die Liebe in den 90ern ganz explizit: „Obwohl die meisten Frauen angeben, nicht immer zum Orgasmus zu gelangen, scheinen sie doch mit ihrem Sexual¬leben zufrieden zu sein".
Als für sie unerwartetes Ergebnis (angesichts des Medienkults um den Orgasmus, seine Erreichbarkeit und Bedeutung für die körperliche Befriedigung) wurde kein eindeutiger Zusam¬menhang zwischen dem Orgasmus und einem erfüllten Sexualleben gefunden. Obwohl nur 29% der Frauen bei jedem Sexualkontakt einen Orgasmus erlangten, berichteten 40% von au¬ßerordentlicher körperlicher und seelischer Zu¬friedenheit mit ihrem Sexualleben. Die Anzahl überaus zufriedener Männer betrug dagegen, trotz 75% immer erreichten Orgasmus, auch nur 40%.
Die Autoren schließen: „Offenbar ist aber ein angenehmes Sexualleben mehr, als bei je¬dem Geschlechtsverkehr zum Orgasmus zu ge¬langen, und nicht jeder, der jedesmal zum Höhepunkt kommt, hat auch ein glückliches Sexu¬alleben" (160).
Dennoch stellte die „Unfähigkeit zum Orgas¬mus" in der Untersuchung ein Hauptproblem der heutigen amerikanischen Frauen dar (nach „mangelndem Interesse an Sexualität"). Nur 29% der befragten Frauen gelangten beim Koi¬tus „immer" zum Orgasmus, ca. 40% „mei¬stens", rund 1/4 erlebten nur „manchmal" oder „selten" einen Höhepunkt, 4% „nie".
Dass Orgasmusfähigkeit nicht gleichgesetzt werden kann mit Orgasmusfähigkeit bei Partnersexua¬lität demonstrierte eine ältere Studie: 46% „glücklich" verheirateter Frauen klagten über Orgasmusprobleme, obwohl nur 15% von Or¬gasmusunfähigkeit berichtet hatten (Frank et al. 1978).
Für viele Frauen scheint es schwierig zu sein, ihr Orgasmuspotential in der Partnersexu¬alität zu aktualisieren.
Die Determinanten weiblicher Orgasmusfähig¬keit und die Ursachen von Orgasmusproblemen sind trotz vieler Theorien nicht endgültig ge¬klärt.
Sicherlich handelt es sich um das Zusammenwirken unterschiedlicher Variab¬len, das heißt körperlicher, psychologi¬scher und soziokultureller Faktoren.
Als globale psychische Beeinträchtigung für das Orgasmuserleben wurde Angst identifiziert (Masters & Johnson 1970; Kaplan 1974; Mutke 1984). Heiman & Grafton-Becker (1989) ver¬muten, dass es viele unterschiedliche Formen von Angst gibt, die mit unterschiedlichen Orgas¬musmustern verknüpft sind. Die Angst kann auch von anderen Gefühlszuständen wie Ärger, Ekel. Schuldgefühl überlagert sein. Es sind bis heute keine konsistenten empirischen Befunde über Faktorenkonstellationen verfügbar, die zwischen Frauen mit und ohne Orgasmusfähig¬keit trennen. Wahrscheinlich gibt es mehr Un¬terschiede als Ähnlichkeiten zwischen Frauen mit Orgasmusproblemen.
Psychoanalytisch betrachtet wird die Übertra¬gung des klitoralen auf den vaginalen Orgasmus nicht mehr als „Reifeziel" betrachtet. Aus gegen¬wärtiger Sicht ist die Fähigkeit zum vaginalen Orgasmus verknüpft mit der Fähigkeit der Frau zu einer intimen Beziehung zu einer anderen Person. Diese Fähigkeit wird heute mit der frü¬hen Mutterbeziehung in Verbindung gebracht. Eine emotional nahe Mutter-Tochterbeziehung formt eine Selbstidentität, die teilweise von Bezogenheit zu anderen Menschen bestimmt ist. Nach Stiver (1984) ist das Angewiesensein der Frauen auf Beziehungen nicht als ein pathologisches Abhängigkeitssyndrom, sondern als ein normaler Teil ihrer Selbstdefinition zu betrachten. Als „Fallstrick" resultiert für die er¬wachsene Sexualfunktion, dass intime Bezie¬hungen auch bedrohlich erlebt werden können, weil sie die frühere Verschmelzung mit der Mut¬ter wieder beleben können - sei es z.B. in der Form, Bedürfnisse anderer (früher der Mutter, heute des Partners) erfüllen zu müssen. Da klare innere Grenzen notwendig sind, um Inti¬mität tolerieren zu können, können Näheängste entstehen, resultierend in Feindseligkeit gegen¬über dem Partner und einem gehemmten Orgas¬mus.
Eine Frau muss sich in ihrer Selbstidentität sicher genug fühlen, um den Partner ohne Angst vor Selbstverlust körperlich „in sich auf¬nehmen- zu können.
Eine schon ältere Studie von Fisher (1973) lie¬fert die bisher vollständigsten Aussagen über die Beziehung des weiblichen Orgasmus zu Persön¬lichkeitsvariablen und lebensgeschichtlichen Hintergrunddaten. Fisher hält die Qualität der frühen Vater-Tochter-Beziehung für eine signi¬fikante Determinante der weiblichen Orgasmus¬fähigkeit. Sein Ergebnis besagt, dass anorgasti¬sche Frauen häufig die ersten Liebesobjekte (be¬sonders Väter) als unzuverlässig erlebt und ihre Erfahrungen und Verlustängste auf spätere Liebesobjekte übertragen haben. Als Ergebnis ist ein höheres Bedürfnis entstanden, starke Erre¬gungssituationen, die das Potential für Kontroll¬verlust beinhalten, zu kontrollieren. Trotz feh¬lender Replikation dieser Studienergebnisse gel¬ten sie für die klinische Tätigkeit als nützliche Arbeitshypothese.
Die Determinante Angst vor Kontrollverlust wird auf unterschiedlichem theoretischen Hin¬tergrund als wichtiger Ursachenfaktor für Or¬gasmusprobleme benannt. Aus psychoanalyti¬scher Sicht können Orgasmusstörungen eintre¬ten, wenn aufgrund der regressiven Kompo¬nenten von Hingabe und Loslassen ein Über¬maß an Kontrolle der körperlichen Funktionen stattfindet. In einer Studie von Bridges et al. (1985) zeigten Frauen, die sich bei Alkohol¬genuss gern „treiben lassen" und ihre Gedanken und Bewegungen bei Koitusende weniger kon¬trollieren konnten, eine höhere koitale Orgas¬musfrequenz.
So ist zu vermuten, dass stark kontrollierte Frauen weniger orgasmusfähig sind - wie es bei sexuell missbrauchten Frauen, für die Kontroll¬verlust extrem bedrohlich ist, auch häufig deut¬lich wird. Diese Frauen mit traumatischen sexu¬ellen Erfahrungen erleben das Sich-Gehen-¬Lassen beim Orgasmus, das eine Kontrollrück¬nahme erfordert, als besonders bedrohlich.
Als weiterer Hemmfaktor für den Orgasmus entwickelt sich oftmals bei fortschreitendem
Vorspiel und Koitus ein gedankliches Fixiertsein auf das Erreichen des Höhepunktes sowie eine ständige Selbstbeobachtung des Erregungsle¬vels mit verstärkter Wahrnehmung ablenkender innerer und äußerer Reize, wodurch die Erre¬gungssteigerung behindert wird.
Nach kognitiv-behavioraleni Verständnis wird das Orgasmusproblem mit lerntheoreti¬schen Überlegungen erklärt. Sexuelles Verhal¬ten ist durch Angst oder Schmerz aversiv kon¬ditioniert, wodurch Entspannung, Erregung und Orgasmus gehemmt werden. Auch Mangel an angemessener Bestätigung für sexuelle Verhal¬tensweisen kann in gestörter Einstellung zu Se¬xualität und sexueller Vermeidung resultieren.
Als mit Anorgasmie verknüpfte Faktoren gel¬ten weiterhin: schlechtes Selbstbild, Außensei¬tergefühl, Unfähigkeit, sexuelle Wünsche zu verbalisieren. Letzteres bestätigend fanden Kelly et al. (1990) in einer Studie heraus, dass die Frauen mit Orgasmusproblemen ein grö¬ßeres Unwohlsein bei der Kommunikation über ihren Wunsch nach direkter klitoraler Stimu¬lation durch den Partner und eine negativere Einstellung gegenüber Selbstbefriedigung zeig¬ten. Des weiteren wiesen sie auch ein stärkeres sexuelles Schuldgefühl und Verhaftetsein in Sexualmythen auf.
Barbach (1980) führte als Ursachen für weib¬lichen Orgasmusmangel auch eine Reihe „nicht¬pathologischer" Faktoren an:
1. Informationsmangel,
2. Mythos vom „reifen" vaginalen und „unrei¬fen" klitoralen Orgasmus,
3. Glaube an eine „richtige" sexuelle Reaktion,
4. Zuschreibung der weiblichen Rolle als passiv und angepasst,
5. Angst vor Kontrollverlust als Ergebnis kultu¬reller Indoktrination, dass Frauen die damenhaft zurückhaltende Rolle einzunehmen hätten.
In der Tat ist es schwierig, die weibliche Orgas¬mushemmung vom sozialen Kontext zu trennen, in dem Frauen ihre Sexualität lernen und erfahren. Stock (1984) benannte weibliche sexuelle Skripts als typisch für anorgastische Frauen, z.B. das „good girl"-Skript (passiv, ge¬horsam, nett) oder das „sleeping beauty"-Skript (passiv auf den Mann wartend, der Erregung und Orgasmus erweckt). „Gute" Mädchen zü¬geln das sexuelle Drängen der jungen, „lose" Mädchen erfreuen sich des Sexes (auf Kosten von Respekt und Ehepotential). Nach dem Unterdrücken ihrer Sexualität während der Ado¬leszenz haben viele Frauen es schwer, später im Kontext einer legitimierten Beziehung sexuell „loszulassen". Auch bewerten manche Männer, die ihrerseits das „nice girl"-Skript internalisiert haben, sexuell ungehemmte Frauen als suspekt.
Die diagnostische Einschätzung der Orgas¬musfähigkeit der Frau stellt den Kliniker vor keine leichte Aufgabe: „Die Definition der Orgasmus-Störung ist kontrovers, weil es bisher noch nicht gelungen ist, Spielbreite und Gren¬zen der weiblichen Orgasmus-Reaktion zu definieren" (Kaplan 1987: 35).
Frauen zeigen in der Tat eine hohe Bandbreite in Bezug auf ihre Orgasmuskapazität. Die Fähig¬keit, den sexuellen Höhepunkt zu erreichen, variiert in Abhängigkeit von individuell unter¬schiedlich benötigten Stimulationsformen sowie von der individuell unterschiedlichen Schwelle des Orgasmusreflexes (um im Denkmodell von Kaplan zu bleiben). Die diagnostisch als „nor¬mal" zu betrachtenden Grenzen des Orgasmus¬reflexes sind bisher nicht bekannt, und die un¬terschiedlichen Stimulationsformen zur Errei¬chung des Orgasmus haben, wie schon ausführ¬lich beschrieben, seit Freud zu heftigen Kontro¬versen in der Bewertung geführt.
Diagnostisch unterscheiden wir nach koitaler, Partner- und Selbststimulation. wobei Frauen, die mit klitoraler Stimulierung orgasmusfähig sind, als ungestört zu betrachten sind. Dem schließt sich auch Langer (1991) an, der emp¬fiehlt, die Unfähigkeit zum koitalen Orgasmus. zumal ohne gleichzeitige klitorale Stimulation, nicht unbedingt als ,.Störung" zu scheu, "son¬dern im Kontext unterschiedlicher physiologi¬scher Schwellen und psychologischer Bereit¬schaften" (179). Andere Therapeuten betrachten Frauen, die nicht koital orgasmusfähig sind, als „gestört", auch wenn sie bei klitoraler Stimu¬lation multiple Orgasmen erleben können. Die¬se unterschiedliche Bewertung, die auch immer noch in der Bevölkerung verbreitet ist, macht die Diagnose der Orgasmusstörung schwierig und ihre Abhängigkeit von ideologischen Ein¬flüssen deutlich.
Aus den vielfältigen Erscheinungsformen des Orgasmus ist abzuleiten, dass diagnostisch eine Reihe von Subtypen des Orgasmuskontinuums abzuklären sind.
Die Bilder umfassen z.B.
- primär anorgastische Frauen, die bei keiner Praktik je einen Orgasmus erlebten,
- Frauen, die nur bei Selbststimulation orgas¬musfähig sind, nicht aber bei Partnerkontakt,
- Frauen, die nie oder selten einen vaginalen Orgasmus erleben,
- Frauen, die koital nur bei gleichzeitiger kli¬toraler Stimulation einen Höhepunkt erreichen können, und andere Varianten.
Bei keiner Störung sexuellen Erlebens und Verhaltens erscheint die Abgrenzung zwischen normalem und pathologischem Verhalten als so willkürlich wie bei diesem Problembereich.
Die diagnostische Bewertung, ob es sich bei den obigen Orgasmusformen im Einzelfall um „psychische Hemmung", d.h. „Störung", han¬delt oder um Stimulationsdefizite, Erregungsmangel, partner- oder situationsbezogene Ursa¬chenfaktoren, die bei eigentlich vorhandener Orgasmusfähigkeit der Frau den Höhepunkt verhindern, muss laut DSM-III-R und DSM-IV vom Kliniker vorgenommen werden. Allerdings erscheint das Kriterium des „klinischen Urteils" als kritisch, da es die Gefahr der Pathologisie¬rung von normalen Variationen der Orgasmus¬kapazität beinhaltet. Ein sexuelles Reaktions¬muster, das auch ohne Orgasmus Erregung und Befriedigung vermittelt, kann auf dem weibli¬chen sexuellen Reaktionskontinuum eine nor¬male Spielbreite darstellen. Die Grenzen des klinischen Urteils zeigen sich auch dann, wenn der Kliniker z.B. zwischen inadäquater Stimu¬lation („ungestört") und Orgasmus-Hemmung („gestört") zu differenzieren hat oder individuell unterschiedliche Orgasmusschwellen bewerten muss. Tiefer (1988) schlägt vor, ein weiblich¬definiertes Modell sexueller Störungen zu ent¬wickeln, das auf den vielfältigen Erfahrungen, Präferenzen, Zielen und Lebenshintergründen von Frauen basiert. Auch Hertoft (1989) bezieht sich diagnostisch auf die Bewertung der Frauen selbst, indem er beschreibt, dass „viele Frauen, die bei objektiver Betrachtung nicht voll orga¬stisch potent sind, dies aber nicht als Mangel empfinden und deshalb nicht behandelt werden wollen, es sei denn, dass sie einem Druck, z.B. seitens ihres Partners, einer Gruppe, der Medien, anderer Frauen, ausgesetzt sind. Wie schon gesagt, muss der eigentliche Maßstab für die Befriedigung der Frau ihr eigenes Erleben sein und nicht die Überlegung, ob dies zu einem bestimmten von anderen vorgeschriebenen Muster passt, so wohlmeinend solche Vorschlä¬ge auch sein mögen" (151).
Das Diagnoseproblem der Orgasmusstörung muss auch unter dem Aspekt der Schwierigkeit beurteilt werden, ob die vorhergehende sexuelle Erregungsphase für das Orgasmuserleben aus¬reichend ist (Leiblum 1998). Während einige Frauen lediglich Phantasien oder Bruststimulation benötigen, ist für andere Frauen ausge¬dehnte klitorale Stimulation erforderlich, um die Erregung bis zur Orgasmusreaktion zu stei¬gern. Angesichts der unterschiedlichen weibli¬chen Anatomie und Physiologie, der unter¬schiedlichen Orgasmusschwelle zu verschiede¬nen Zeiten und bei verschiedener Stimulation, wurde sogar angeregt, situative Anorgasmie überhaupt nicht als Sexualstörung zu betrach¬ten.
Nichtsdestoweniger herrscht Einigkeit, dass bei der Diagnostik von Orgasmusproblemen eine detaillierte Erfassung nicht nur des Sexual¬verhaltens zu erfolgen hat, sondern auch des Beziehungskontextes, in dein sexuelle Aktivität stattfindet.
Organische Ursachen und ihre Diagnostik
Es empfiehlt sich, wie in ICD-10 (F 52.3) die weibliche Orgasmusstörung als Einheit zu be¬trachten und - bei Berücksichtigung der Aus¬führungen zu organischer Verursachung von Er¬regungsstörungen - nicht vorrangig nach DSM¬IV (302.73) als verzögerten oder fehlenden Or¬gasmus .,nach einer normalen sexuellen Erre¬gungsphase" zu definieren.
Die für die Orgasmusreaktionen entscheiden¬den somatischen Strukturen und Mechanismen sind in Abschnitt 5.1 zur Physiologie der weibli¬chen Sexualreaktionen dargestellt worden. Im Gegensatz zu erregungsassoziierten vasoreakti¬ven Prozessen geht es beim Orgasmus schwerpunktmäßig um die Aktivierung der circumva¬ginalen bzw. Beckenbodenmuskulatur, die über den Nervus pudendus geleitet wird. Da dieser Nerv (außer seiner Afferenz-Funktion) auch für die Kontrolle der vesikalen und analen Sphinkteren „zuständig" ist, müssen bei deren Störung auch Orgasmusprobleme neuro-urolo¬gische Aufmerksamkeit finden.
Das Spektrum weiblicher Orgasmusfähigkeit bzw. -gestörtheit ist so bekannt, dass es an die¬ser Stelle keiner Erwähnung bedürfte, wenn es nicht in der Vergangenheit Spekulationen über organische Verursachungsfaktoren angestoßen hätte:
1. Orgasmusfähigkeit durch Phantasie oder zärtliche Interaktion allein;
2. die Fähig¬keit von schätzungsweise 20 bis 30°% der Frau¬en, Orgasmus durch Koitus ohne jede direkte klitorale Stimulation erreichen zu können;
3. koitale Orgasmusfähigkeit, die der Bahnung und/oder Begleitung durch klitorale Stimulation bedarf;
4. Frauen, die in Gegenwart eines Partners durch keinerlei Stimulation zum Or¬gasmus kommen können, wohl aber (phantasie¬begleitet) durch Selbststimulation;
5. totale (le¬benslange) Anorgasmie, die als Störung erlebt bzw. erlitten wird;
6. Frauen, die aus koitaler oder nicht-koitaler Zärtlichkeit Zufriedenheit gewinnen, ohne einen Orgasmus zu vermissen, dessen Fehlen also auch nicht als Störung emp¬finden.
Obwohl theoretisch jedwede Krankheit oder Nebenwirkung von Pharmaka, die die lntakt¬heit der orgasmusrelevanten Strukturen beein¬trächtigt, Orgasmusstörungen verursachen kann, gelten diese zu Recht als im allgemeinen psychisch verursacht und - bei gegebener Indi¬kation- sexualtherapeutisch behandelbar. Die erwähnten somatologischen Spekulationen galten der „Kräftigung" der Beckenbodenmusku¬latur, der angeblichen Notwendigkeit der Lösung „klitoraler Adhäsionen", dem überbewer¬teten „Gräfenberg-Punkt".
Sie gipfelten in (tat¬sächlich durchgeführten) Operationen (!!!) zur „Ver¬besserung" der Beziehung zwischen Klitoris und Vagina - ausgehend von der Vorstellung einer anatomisch „falschen" Plazierung der Klitoris, die deshalb beim Koitus nicht die erforderliche Reibung erfahren würde (Burt & Burt 1975).
Sieht man von der Absurdität dieses Unter¬fangens ab und vergegenwärtigt sich die enorme Variationsbreite vulvärer Strukturen - was auch für ratsuchende Frauen therapeutische Bedeu¬tung haben kann -, so bleibt die interessante Frage, ob diese von möglicher Relevanz für die koitale Orgasmusschwelle sein könnte.
Dem Versuch, eine kompakte Übersicht orga¬nischer Faktoren zu vermitteln, die mit einiger Wahrscheinlichkeit Orgasmus beeinträchtigend wirken, muss vorangestellt werden, dass in ers¬ter Linie dann nach solchen Faktoren gesucht werden muss, wenn eine früher orgasmusfähige Frau anorgastisch wird - vorausgesetzt, dass dies nicht durch psychologische Krisen gleich welcher Art ausgelöst wurde.
An erster Stelle sind Beeinträchtigungen ner¬valer Strukturen oder Mechanismen zu nennen, die den Orgasmusreflex vermitteln. Am häufigsten sind „chemische" Beeinträchtigun¬gen, also solche durch Pharmaka (unter Ein¬schluss von Drogen): Nebenwirkungen von An¬tidepressiva sowie Neuroleptika, wie sie bereits zuvor an mehreren Stellen besprochen wurden (diese sind stets in Bezug zur Grundkrankheit zu setzen, mitunter durch Umstellung auf ein anderes Präparat zu lindern, nicht selten aber leider zu akzeptieren); Substanzen (v.a. Antihy¬pertensive) mit Blockade von (zumal) Alpha-¬Adrenozeptoren; schließlich v.a. Sedativa, Narkotika und Alkohol in zu hoher Dosierung. Eher seltenere Verursacher von Orgasmusstö¬rungen sind neurologische Erkrankungen oder Läsionen - so gut wie immer im Zusammen¬hang mit dem Gesamtbild des neurologischen Syndroms zu sehen:
a) Unter den Erkrankun¬gen des Rückenmarks hat die Multiple Sklerose größte Bedeutung;
b) Schädigung peripherer Nerven hat Auswirkungen bei diabetischen oder alkoholischen Neuropathien (mit möglicher Schädigung der Klitorissensibilität), bei alters¬bedingten Fibrosierungen in der Klitoris, bei Spinalstenose (mit motorischen und/oder sen¬sorischen Beeinträchtigungen) und bei Wurzel¬kompressionen, hier hauptsächlich schmerzbe¬dingt;
c) chirurgische Interventionen haben (selten) Bedeutung bei Läsionen sympathischer Strukturen thorako-lumbal, retroperitoneal¬paravertebral und aorto-iliacal;
d) Querschnitts¬läsionen des Rückenmarks können sich sakral durch Unterbrechung sensorischer Afferenz oder thorakal durch Blockierung sympathischer Efferenz auswirken.
Endokrine und metabolische Störungen wir¬ken sich weitreichender als auf den Orgasmus aus. Hier ist zu erinnern an Testosterondefi¬zienz, unterschiedliche Störungen der Neuro¬transmission, Schilddrüsenunterfunktion sowie an Störungen der Nebennierenrinden- und Hy¬pophysenfunktion.
Therapieoptionen
Wie bereits verdeutlicht, gibt es heftige Kontro¬versen um die Bewertung der weiblichen Orgas¬muskapazität als „gestört" oder „normal" und damit um eine Behandlungsnotwendigkeit. Un¬abhängig davon suchten und suchen jedoch auch heute viele Frauen therapeutische Hilfe, weil sie darunter leiden, dass sie gar nicht, zu selten oder zu mühsam bei sexuellen Aktivi¬täten zum Höhepunkt gelangen - oder nicht den „richtigen" (= koitalen) Orgasmus errei¬chen können.
Das Ziel der Behandlung von Störungen des Orgasmus besteht darin, die Neigung der Pa¬tientin, zwanghaft auf ihre präorgastischen Emp¬findungen zu achten, zu modifizieren und es ihr auf diese Weise zu erleichtern, sich erotischen Gefühlen hinzugeben, da dieses „eine notwendige Voraussetzung für das orgastische Loslassen ist" (Kaplan 1979: 35). Was den geni¬talen Bereich betrifft, ist die Situation so zu strukturieren, dass die Patientin unter Bedingungen vollständiger Ungestörtheit und Entspannung optimale Klitorisstimulation erhält. Gleichzeitig muss sie von zwanghafter Selbstbeobachtung abgelenkt werden. Für Patientinnen, welche diese Schritte allein durch¬führen, kann die Ablenkung durch erotische Phantasien, durch Lesen von erotischer Litera¬tur oder durch Betrachten von Bildern oder Filmen (in der Regel keine für Männer gemachte Pornographie) erfolgen.
Die sexualmedizinische Behandlung bleibt nicht auf einer vorder¬gründig genitalen und technischen Ebene stehen, sondern wird von Anfang an die Ebene der Beziehung im Blick haben und sexuelle Übungen in dieses größere Ganze integrieren.
Man unterscheidet zwischen der Behandlung der totalen Anorgasmie, der Anorgasmie im Partnerbezug sowie der koitalen Anorgasmie und bietet je spezifische Behandlungsmaßnahmen an.
Einige Frauen haben noch niemals einen Hö¬hepunkt erlebt (totale Anorgasmie), vielleicht aus Mangel an richtiger Stimulation oder weil der Orgasmusreflex im Übermaß gehemmt ist. Übereinstimmend gilt bisher als effektivste Sti¬mulationstechnik die Selbstbefriedigung, die der Frau erlaubt, die für sie optimale Stimulierung zu identifizieren und sie gleichzeitig von Hem¬mungen entlastet, die aufgrund von Beobach¬tung und Erwartungsdruck durch einen Partner behindernd vorhanden sein können.
Voraus¬setzung ist, dass die Frau eventuelle Vorurteile und Schuldgefühle gegenüber Masturbation in den Therapiesitzungen abbauen kann.
Für viele Frauen ist der Hinweis hilfreich, dass es sich hier ja nicht um die von ihnen abgelehnte „Selbst"-Befriedigung (als Selbstzweck oder ver¬meintliche „Ersatzhandlung") handelt, sondern um einen Weg, die Beziehung zu sich selbst als auch zum Partner zu verbessern.
Des weiteren müssen unbewusste Orgasmushemmungen, de¬ren Wurzeln häufig in Sexualverboten der Kind¬heit liegen, in den Therapiesitzungen durchge¬arbeitet werden - seien es Ängste um Bestrafung für sexuelle Lustempfindungen, seien es Schuld¬gefühle in Bezug auf Lust und Glück. Auch Informationsvermittlung zur Masturbations¬technik kann hilfreich sein, sowie die Ermuti¬gung der Patientin, die sie stimulierenden sexu¬ellen Phantasien zu erkunden.
Wie sehr tief ver¬wurzelte Sexualverbote die Entfaltung des Or¬gasmuserlebens behindern können, demon¬striert die folgende Fallvignette:
Fallbeispiel: Primäre Anorgasmie
Die 24-jährige Frau C. leidet darunter, in der neunjäh¬rigen Beziehung zum Freund noch nie einen Orgas¬mus erlebt zu haben. Erst nachdem die Patientin jah¬relang den Höhepunkt vorgespielt hatte, gelang es ihr, mit dein Partner über das Problem zu sprechen. Ob¬wohl das Paar sexuell viel experimentiert (verschiede¬ne Stellungen, variantenreiches Vorspiel), ist der Or¬gasmus bisher nicht gelungen. Der Freund fürchtet in¬zwischen, es liege an ihm, und leidet unter dem Man¬gel. Manchmal hat die Patientin schon ganz die Lust zu sexueller Aktivität verloren, die ihr sinnlos er¬scheint. .wenn ich zum Schluss doch nichts davon ha¬be-. Manchmal jedoch kann sie den Sexualkontakt genießen, auch wenn der Höhepunkt fehlt. Der ver¬ständnisvolle und bemühte Partner gibt ihr die von ihr gewünschte Stimulation, über die sie ohne Scheu mit ihm sprechen kann. Auch durch Selbststimulation kann sie hohe Erregungsstufen erreichen, jedoch nicht den Orgasmus. Eine Steigerung ihrer Erregung tritt auch ein durch „merkwürdige" anregende Ge¬danken und Phantasien ..von brutalen Männern", die sie hinterher beunruhigen. „Ich verstehe mich selbst nicht." ..In dem Moment kann ich die Phantasien ge¬nießen, hinterher denke ich: 'Oh Gott, das gehört sich nicht'." Wenn Frau C. erregt ist, bricht sie die Selbst¬stimulation plötzlich ab, muss aufstehen und sich die Hände waschen. .,Als habe ich mich beschmutzt und muss mich wieder reinwaschen." „Als wenn ich es mir selbst verbiete. Ich breche es ab, wenn es besonders schön ist." Frau C. schämt sich auch wegen ihres Kör¬pers, an dem sie viel auszusetzen hat. Sie hat große Hemmungen, sich dem Partner nackt zu zeigen. Auch FKK oder Sauna lehnt sie ab. „Man tut das nicht."
Es wird deutlich, dass bei dieser Patientin zu¬nächst die Bearbeitung der tief liegenden Sexualverbote bzw. ihrer „sexuellen Weltanschau¬ung" in den Mittelpunkt der sexualtherapeuti¬schen Maßnahme treten muss. Die Unfähigkeit. durch Koitus zum Höhepunkt zu kommen, ist bei Betrachtung der weiblichen Anatomie und Physiologie nicht überraschend, da der sensori¬schen Stimulation im Bereich der Klitoris in der Regel große Bedeutung für die Auslösung des Orgasmus zukommt. Dafür bietet der Ge¬schlechtsverkehr mechanisch gesehen keine günstige Voraussetzung, wenn auch der Koitus psychologisch betrachtet eine stark erregende und emotional befriedigende Reizqualität bein¬haltet. Wahrscheinlich können nur Frauen mit relativ niedriger Orgasmusschwelle durch Koi¬tus allein (ohne klitorale Stimulation) zum Hö¬hepunkt kommen - das sind nach Schätzungen nur ein Drittel bis die Hälfte der amerikani¬schen Frauen -, wobei die übrigen entweder in¬tensivere klitorale Stimulierung benötigen (mit der Diagnose „nicht pathologisch gehemmt") oder aufgrund seelischer Hemmungen eine ho¬he orgastische Schwelle aufgebaut haben. Ers¬tere profitieren von Bestätigung und Beratung, letztere benötigen sexualtherapeutische Ma߬nahmen.
Als hilfreich erweist sich das sog. „Brücken-Manöver", das darauf zielt, die Frau klitoral bis kurz vor, nicht hinein in den Orgas¬mus zu stimulieren und dann die koitalen Beckenbewegungen den Orgasmusreflex auslösen zu lassen. Dies ist eine „Brücke zwischen klito¬raler Stimulierung und Koitus" (Kaplan 1987: 40).
Unabhängig von der Stimulationsform stellt jeder Orgasmus normalerweise eine lustvolle Erfahrung dar, vorausgesetzt, dass keiner der Partner den nichtkoitalen Orgasmus als das „Zweitbeste" ansieht. Das sexualtherapeutische Vorgehen besteht allerdings nicht nur aus me¬chanischen Übungen, sondern auch aus durch¬greifenden Haltungsänderungen der Frau, um z.B. Verantwortung für die eigene Befriedigung zu übernehmen, sicherzustellen, ausreichend stimuliert zu werden und sich nicht gänzlich auf Sensibilität und Entgegenkommen des Partners zu verlassen. Dazu gehört auch, die eigenen se¬xuellen Bedürfnisse akzeptieren zu lernen statt Sexualität als Mittel zu betrachten, dem Mann zu gefallen.
Bei aller therapeutischen Vielfalt wird der „Kampf" um den weiblichen Orgasmus aber auch häufig in Frage gestellt. Jedenfalls ist der Orgasmuszwang, der seit der sog. sexuellen Re¬volution auch die Frauen erreicht hat, ebenso kritisch zu betrachten wie der schon ältere Potenzzwang auf Seiten der Männer. Auf jeden Fall ist es wichtig, den Frauen in der Therapie zu vermitteln, dass es keinen „einzig richtigen" oder „normalen" Orgasmus gibt, sondern dass dieser durch vielerlei Stimulierungsarten aus¬gelöst werden kann, die nicht auf Penis-Vagina Kontakt begrenzt sind. Es würde vielen Frauen zu größerer Befriedigung und vielleicht besserer Funktion verhelfen, wenn die große Bandbreite weiblicher sexueller Reaktionen mit verschiede¬nen Orgasmusarten und unterschiedlichen For¬men von sexueller Stimulation akzeptiert würde und das Dogma von einem einzigen Orgasmus ¬oder Stimulationstyp aufgegeben würde.