Re: Schreien bei Alzheimer
Hallo Ihr Lieben,
ein schwerdementer Fall ist mein Vater noch nicht und ich kann auch nicht im Einzelnen voraussagen, wie er sich verhalten wird, wenn es einmal soweit sein wird. Meine Großmutter mütterlicherseits war zuletzt schwerdement. Leider habe ich den Fall nur am Rande mitbekommen, weil ich damals noch viel weiter entfernt wohnte. Opa und einige seiner Kinder hatten sich eine Zeitlang um sie gekümmert bis sie dann schließlich in ein Pflegeheim kam und dort mit 93 Jahren verstarb. Geschrei hatte es aber nicht gegeben, eher eine Verstummung und starke Desorientierung – sie fand die Toilette nicht mehr in ihrem Haus, in dem sie fast 70 Jahre wohnte und wollte plötzlich nachts nach England fahren zu ihrer Tochter, usw. Opa – der zu cholerischen Ausbrüchen neigte (er starb mir 96 Jahren, bis zuletzt ohne nennenswerte geistige Trübungen) - machte leider auch vieles falsch und beschimpfte Oma immer öfters als „verrückt“, was diese einschüchterte. Zu dieser Zeit gab es noch keine Medikamente wie Reminyl, usw., was vmtl. zu einem beschleunigten Verlauf der Krankheit geführt hat.
Weiteres Nachdenken ergab:
Was das Schreien betrifft, so könnte es dafür ja viele Ursachen geben. Schreien ist ja ein uraltes Verhalten, was stammesgeschichtlich vor sehr langer Zeit etabliert wurde. Es hängt immer mit starken Emotionen (Stress) zusammen (Schmerz, Furcht, Schrecken, Drohung, Warnung aber u.U. auch Freude) und ist eine Reaktion auf tatsächliche oder halluzinierte Eindrücke. Es können sogar Schmerzen empfunden werden obwohl keinerlei Verletzung vorliegt. Im Gehirn ist fast alles möglich. Unser Gehirn kann – wie es in einem Buchtitel heißt – eine Frau mit einem Hut verwechseln, ganze Körperpartien ausblenden und vieles mehr. Sehen Sie sich einmal in ihrem Zimmer um und betrachten Sie mal die gegenüberliegende Wand und die Tür. Sie würden nie auf die Idee kommen, dass die Zimmerdecke dort niedriger wäre als am Platz, an dem Sie sich befinden und die Tür ist selbstverständlich eine ganz normale Tür. Das ist so, weil unser Gehirn ganz selbstverständlich die Umwelt berechnet ohne das wir das merken und uns so eine gewohnte Umgebung zeigt. Wenn aber diese Verrechnungsprozesse - diese unzähligen Rückkopplungen - gestört oder unterbrochen werden, dann ist (in der subjektiven Wahrnehmung) die Decke am anderen Zimmerende niedrig und Sie werden denken, sich bücken zu müssen, um aus dem Zimmer zu kommen. Entferntes wird dann ganz real als klein wahrgenommen. Ein winziges Tier kann riesige Ausmaße annehmen und ein anderer Mensch kann als hässlicher Gnom erscheinen. Und nun stellen Sie sich bitte vor, Sie würden im Nu plötzlich in eine solche bizarre und verzerrte Welt katapultiert werden. Sie würden vmtl. laut aufschreien. Leider wissen wir nicht viel über das subjektive Erleben fortgeschritten dementen Menschen weil diese sich uns nicht mehr mitteilen können. Wir können nur annehmen, dass einst Vertrautes immer fremder wirken wird und damit u.U. furchteinflößend. Was wir aber wissen, ist, das Furcht sehr viel mit einem Teil des Gehirns zu tun hat, den man Mandelkern (Amygdala) nennt. Wenn es gelänge, dort gezielt zu manipulieren, könnte man die Furcht beenden und damit möglicherweise auch das Schreien. Notfalls das Ding wie einen Tumor partiell zerstrahlen, denn darauf kommt es dann ja auch nicht mehr an. Ich sollte mir – falls es mal mit mir selber soweit kommen sollte – schon mal eine Liste von Maßnahmen machen, die ich wünsche und mit der ich den Ärzten die entsprechenden Erlaubnisse erteile. (Es ist natürlich auch möglich, dass man sich dieser Schreie selber als Betroffener gar nicht mehr bewusst ist, die Sache also vom limbischen System „am Bewusstsein vorbei“ zu den motorischen Arealen geht. Aber auch in diesem Fall wäre es vmtl. die Amygdala, die ja zum limbischen System zählt.)
Die Amygdala lässt sich aber vielleicht auch weniger martialisch beeinflussen. Sie reagiert nämlich auch unterschwellig – also ohne das es uns überhaupt bewusst wird – auf Gerüche. Zwar ist es bei neurodegenerativen Erkrankungen nicht mehr weit her mit dem Geruchsempfinden, aber es ist vielleicht doch einen Versuch wert. Subliminale Stressreduktion wäre vielleicht mal was Neues.
Ich bitte um Entschuldingung für meine zuweilen etwas wilden Spekulationen – aber man muss vieles mit in Betracht ziehen und manchmal ist es ja etwas ganz Gewöhnliches, was helfen kann und so nahe ist, dass wir es gar nicht bemerken.
Und eines hilft uns in jedem Fall: Je mehr wir wissen, desto weniger Stress haben wir selber. Stress kommt von Überraschungen. Wissen „tötet“ Angst.
Gruss
Egon-Martin