Hallo Florian,
das kann ich so nur unterschreiben: Auch ich liebe Wissenschaft und Technik.
Aber die Art und Weise, wie rasant da mittlerweile Entwicklungen verlaufen, ist auch meiner Meinung nach in der Tat gesundheitsschädigend, in mehrererlei Hinsicht:
1. Beruflich ist das noch am leichtesten festzustellen, denn durch die zunehmende Digitalisierung lassen sich (vermeintlich, aus Sicht der Unternehmen) leicht Personaleinsparungen bei gleichzeitiger Arbeitsverdichtung realisieren. Hatte man früher zwei Stunden Zeit, eine Sache zu erledigen, reicht heute dafür ne halbe Stunde oder weniger; man soll aber idealerweise trotzdem gleichzeitig noch alles andere mögliche schon mitbeachten, ist also mal mindestens gefordert, mehr oder weniger auf Dauerempfangsbereitschaft zu sein. Sieht man ja ganz besonders an der Art und Weise, wie Aufgaben, Anfragen und Arbeiten heutzutage an die Beschäftigten gelangen: Per e-Mail, innerhalb weniger Sekunden, egal von wo aus auf diesem Planeten. Noch vor vierzig Jahren hatte jede Firma Hausboten, die die Hauspost mit den Akten verteilt haben. Das geschah zwei bis dreimal am Tag; dazwischen konnte es einem höchstens mal passieren, daß ein Kollege oder der Chef etwas hatte. Oder das Telefon klingelte. Wobei auch die wiederum für einen Teil ihrer Infos auf die Hauspost oder das Telefon angewiesen waren.
Heute krieg ich schlimmstenfalls allein 20 bis 30 Ticket-Updates über unser Ticketsystem, wer gerade woran arbeitet und wie weit er damit ist. Die Transparenz dabei in allen Ehren - aber die Informationsflut hat dadurch und durch andere Infos dieser Art dramatisch zugenommen.
Und irgendwann ist der "Plattenspeicher" im Gehirn dann eben erstmal voll. Und genau wie bei ner echten Festplatte, muß auch das Gehirn von Zeit zu Zeit "defragmentiert" und aufgeräumt werden, sortieren, was in den Papierkorb kann und was nicht etc.
Nur läßt einem dazu praktisch niemand mehr die Zeit - die nächste Aufgabe ist bereits in den Startlöchern. Beruflich oder privat; das macht dann nur noch wenig Unterschied, wenn der Kopf ohnehin schon raucht.
2. Im privaten Bereich sind es natürlich zum einen die ganzen neuen sozialen Medien wie WhatsApp, Facebook, Twitter & Co: Jeder will dazugehören, immer mehr wollen ihren eignen Blog haben, und durch die globale Vernetzung kann man heute auch seinen Senf zu Dingen abgeben, die einen noch vor 20 Jahren entweder nicht gejuckt hätten oder wozu man im näheren Bekannten- und Freundeskreis evtl. keine Gesprächspartner gefunden hat. Was sein Vor- und Nachteile hat - ich zumindest stelle fest, daß ich gerade auch durch meine Beteiligung im Netz nicht selten noch zusätzlich unter Strom stehe, insbesondere, wenn eben mal etwas härschere Kritik auf etwas von mir kommt. Da reagiert dann mein System nicht viel anders als im realen Leben auch.
Das war in der Vor-Smartphone-Internet-Ära auch noch etwas leichter: Man hat sich praktisch nur im realen Leben mit anderen gestritten, ggfs. auch am Telefon. Aber grundsätzlich bestand auch eher die Möglichkeit, sich dadurch aus dem Weg zu gehen.
Heute hat man sein Smartphone jederzeit griff- und die meisten empfangsbereit. Damit hitzigen Diskussionen und Streitigkeiten in der virtuellen Welt aus dem Weg zu gehen, gestaltet sich für manch einen schon deutlich schwieriger; da rede ich aus persönlicher Erfahrung.
Und spätestens im privaten Bereich ist die technologische Entwicklung als Ganzes ja mittlerweile auch eher zum Streßfaktor geworden: Wenn man in den 70er, 80er oder auch noch 90er Jahren ein Telefon oder nen Fernseher haben wollte, hat man sich (kurz) beraten lassen, ne Nacht drüber geschlafen und das Gerät am nächsten Tag gekauft (oder auch nicht). Und vieles konnte man einfach so mitnehmen, weil die Funktions- und Variantenvielfalt der Geräte überschaubar war.
Wenn man heute einen TV kaufen möchte oder ein neues Smartphone, kommt man in der Regel um tagelange Recherchen nicht herum... welches Gerät kann was, wie gut, wie zuverlässig...? Ist der Stromverbrauch auch nicht zu hoch? Ist der Hersteller zuverlässig und kulant? Oder steht er womöglich auf irgendeiner roten Liste, weswegen man ihn besser boykottieren sollte? usw. Ratz-fatz ist da ne Woche rum, und eigentlich ist man am Ende nicht viel schlauer als nach dem ersten Tag schon.
Daß das Streß auslöst, weil unser Gehirn die ganze Zeit auf Hochtouren läuft, gelernt hat, Probleme zu suchen und zu lösen, viele dieser "Probleme" aber nicht wirklich eindeutig lösbar sind, ist für mich mittlerweile logisch und offensichtlich.
Die größere Schwierigkeit ist jedoch, daß unser Gehirn gerade durch moderne und insbesondere digitale Technik in heutzutage immer kürzeren Abständen kleine "wow-kicks" bekommt, also Endorphine und Dopamin ausschüttet, weil all diese kleinen Errungenschaften kurzfristig Glücksgefühle hervorrufen. Blöderweise aber eben nur (sehr) kurzfristig, und je kurz-frequenter solche "kicks" kommen, umso größer und schneller geschieht da auch ein Gewöhnungseffekt. Bleiben diese "kicks" dann in der vom Gehirn erwarteten Form und Größenordnung aus (und das muß zwangsläufig so sein, so wäre es ja kein Gewöhnungseffekt), löst auch das Streß aus - den Streß eines Süchtigen: Wo bekomme ich den nächsten "kick" her.... Hilfe... ?!!!
Lange Rede, kurzer Sinn:
Ich denke, wenigstens in dieser Hinsicht waren die früheren Zeiten deutlich besser, weil die Menschen mit deutlich weniger zufrieden waren. Vielleicht auch nicht glücklich, aber zufrieden. Oder vielleicht doch glücklich - wenn man über Jahrhunderte nicht weiß, was ein Auto, ein Fernseher oder ein Computer ist (geschweige denn ein Handy), vermißt man es natürlich auch nicht. Und wie
Tired schon schrieb, dürften auch die wenigsten überhaupt Zeit und Gelegenheit (und Bildungshintergrund) gehabt haben, um sich über so nen "Firlefanz" alltäglich den Kopf zu zerbrechen *g*.
Versteht mich nicht falsch: Ob ich wirklich mit Menschen früher tauschen möchte, weiß ich nicht. Wahrscheinlich nicht. Allerdings weiß ich ja auch all die "modernen" Dinge, die ich weiß. Unter Umständen wäre ich als Bauer oder Tagelöhner vor zweihundert Jahren oder insbesondere als Mitglied eines Indianerstammes auf eine gewisse Art und Weise tatsächlich zufriedener und ausgeglichener - ich wüßte ja nichts von dem, was ich jetzt weiß.
Alles ein bißchen philosophisch
