Sie ging davon aus, dass ich schon Zeit meines Lebens Ängste gehabt hätte. Ängste wohl, aber bis zu meiner ersten
Depression im Alter von 35 Jahen kam ich mir wirklich recht normal vor und kein bisschen anders als andere. Ich hatte auch keine postnatale Depression. Auch bis zu meinem Ruhestand konnte ich mein Leben mit allen
Höhen und Tiefen bewältigen, ohne mich groß beeinträchtigt zu fühlen.
Das glaubte sie mir nicht. [...]
Als ich die Praxis verließ, war alles noch in Ordnung. Aber etwa eine halbe Stunde danach, bemerkte ich, wie ich mir auf die Zähne biss,
Angst aufkam, panisch wurde und mich große Hoffnungslosigkeit überkam.
Ich kenne dieses Gefühl im Ansatz, das ging mir ein paar Mal genauso, wenn ich aus der Therapie gekommen bin. Diese Sitzungen können leider im ersten Moment einen solchen Effekt haben und wirken manchmal auch 2-3 Tage nach...
Aber: Laß Dich da bitte nicht ins Bockhorn jagen: Deine Therapeutin muß Dir das auch nicht
glauben! Weder ist das ihr Job, noch sollte sie sich das anmaßen - in meinen Augen!
Warum ich das so sehe?
=> Weil das im Prinzip auch meine Entwicklung bis zum Alter von 36 gewesen, bevor mich die Depression-Angst das erste Mal "voll" erwischt hat.
Ja - ich bin von meinem Naturell her schon immer schüchterner, vorsichtiger und zaghafter gewesen als andere. Richtig. Will ich gar nicht abstreiten.
Aber wie Du von Dir schreibst, so kam auch ich mir bis zum Alter von 36 "normal" vor und nicht übermäßig ängstlich. Sicher - eventuell hätte das ein "Experte" oder Therapeut schon zehn Jahre vorher mal erkannt, worauf das hinauslaufen könnte. Das ändert aber nichts daran, daß ich mich selbst so vorher nicht gekannt und wahrgenommen habe.
Deswegen ist auch an Deiner Wahrnehmung von früher nichts "falsch" oder ist da irgendwas, was man Dir nicht glauben können sollen müßte...
Und genau genommen hat ausnahmslos JEDER Mensch heutzutage Ängste - wenn sie der Mensch als solcher nicht schon immer gehabt hat, spätestens, seitdem er bewußt denken, handeln und Konsequenzen ableiten und lernen kann.
Trotzdem entwickelt daraus nicht jeder zwangsläufig eine Depression oder Angststörung, wenngleich die Prädisposition dafür sicherlich höher ist. So sehr wahrscheinlich auch bei mir.
Es ist aber auch so, wie Du es ebenfalls selbst schreibst:
Ich habe heute mit meiner Therapeutin noch einmal darüber gesprochen, was zehn Jahr
Demenz meiner Mutter, die zehn jährige
Krebserkrankung meines Mannes sowie die Psychosen meines Sohnes bei mir bewirkt haben.
=> Solche dramatischen Erfahrungen gehen nicht spurlos an einem vorbei. Überleg mal: Zehn Jahre, jeweils! Zusätzlich Dein Sohn. Und alles zeitweise wahrscheinlich auch noch parallel als Doppel- und Dreifachbelastung.
=> So etwas speichert unser Gehirn eben einfach ungefragt ab.
Im Ganzen vergleiche ich unsere Psyche und unser Gehirn gern mit einem Regenfaß:
Wenn wir geboren werden, ist das Faß üblicherweise leer.
Im Verlauf unseres Lebens regnet es da nun hinein, das Faß füllt sich.
Kleinere Ereignisse führen nur nen leichten Nieselregen zu, größere Ereignisse ne wahre Sintflut.
Von Zeit zu Zeit kommt jemand bzw. ein Ereignis, das schöpft etwas von dem Wasser wieder ab - aber ganz leer wird es niemals mehr - ein mehr oder weniger großer Bodensatz bleibt immer.
Vielleicht haben manche Fässer auch Wurm- oder Bohrlöcher, durch die dauerhaft etwas abfließen kann, andere eben weniger.
Aber in jedem Fall sind solche Lebensereignisse, wie Du sie erfahren hast, definitiv solche, die das Faß sprichwörtlich zum Überlaufen bringen!
Und ganz im Ernst: Da ist es relativ unwesentlich, ob man schon immer ängstlich gewesen ist oder nicht. Meiner Meinung nach.
Ich habe einen Arbeitskollegen, rund 15 Jahre älter als ich, der sich um seine beiden alten, senilen und gebrechlichen Eltern kümmert, die noch dazu ein leichtes Alkoholproblem haben. Zusätzlich ist seine Frau ebenfalls leicht psychisch krank, ist in mancherlei Hinsicht nicht geschäftsfähig, und auch um die kümmert er sich. Er arbeitet Vollzeit, und nachmittags/abends fährt er in der Regel immer noch für ein bis zwei Stunden zu seinen Eltern: Einkaufen, Besorgungen erledigen, Schreibkram durchsehen, gut zureden und versuchen, dem Alterstarrsinn gegenzuwirken. Wenn er Zuhause ist, kann es sein, daß seine Frau gut drauf ist - oder auch nicht...
Äußerlich steckt er das alles beeindruckend gut weg, man merkt ihm die Belastung kaum an. Aber an einer Gastritis laboriert er nun ebenfalls schon seit zwei Jahren herum, und an manchen Tagen sieht er dann doch ziemlich fertig aus.
Abgeben möchte er die Verantwortung aber auch nicht, weder für seine Eltern noch für seine Frau.
Ich ziehe da wirklich meinen Hut vor.
Ich weiß aber auch, daß ich das nicht packen würde - der "normale" Alltag mit Job, Familie und Kind ist mir ja schon oft genug zuviel. Und dann so etwas on top...?
Daher sage ich:
Laß Dich nicht ins Bockshorn jagen!
Ja, es mag sicher sein, daß Du ein grundsätzlich ängstlicheres Naturell mit in die Wiege gelegt bekommen hast, so wie ich und eine Vielzahl von anderen Menschen auch.
Aber solange man nicht über Gebühr belastet wird / belastet worden ist, kann man etwas ängstlicher und unsicherer sein und trotzdem in sich ruhen. Was dem einen etwas ausmacht, macht dem anderen nichts aus, und umgekehrt. Man führt unter'm Strich trotzdem ein "normales" Leben - oder das, was wir modernen Menschen dafür halten
Sobald aber eben langjährige, scheinbar permanent anhaltende Belastungen auftreten wie eben bei Dir, schaltet die Psyche eben früher oder später in den Dauerbereitschafts- und -alarmzustand. Bei dem einen dauert es zwei Jahre, beim anderen fünf - aber 2x 10 Jahre plus krankes Kind dürften über so lange Zeiträume wirklich kaum jemanden unberührt lassen, auch die selbstsichersten Menschen nicht.
Und unsere Psyche bzw. unser Gehirn vergißt eben nichts.
Aus evolutionärer Sicht gesehen ist das früher überlebensnotwendig gewesen, solche bedrohlichen Erlebnisse anhand ihrer Anzeichen abzuspeichern und sofort das Adrenalin zur Verfügung zu haben - wer nach dem ersten Angriff durch einen Säbelzahntiger noch mit nem Kratzer davongekommen ist, will das kein zweites Mal erleben...
Du wirst also in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten eine ganze Menge von Erlebnissen und Triggern gehabt haben, die Dein Gehirn als potentiell bedrohlich abgespeichert hat. Dazu gehört eben auch das Wach-werden am Morgen mit all den Sorgen und Ängsten, die Du seinerzeit alle gehabt hast, als Du noch sehr viel akuter gefordert gewesen bist...
Das Gehirn vergißt nichts... insbesondere eben das nicht, was potentiell lebensbedrohlich ist... was paradoxerweise genau das ist, was unsereins immer wieder an den Rand der Kräfte und des Lebenswillen bringt... *seufz*
So gesehen, ja, sind es sicher irgendwo Narben auf der Seele, das mag schon sein.
Aber gib nicht auf, sie einfach das sein zu lassen, was sie sind: Narben, anfangs noch frisch, mit der Zeit immer blasser und blasser, bis es irgendwann nur noch weiße Striche auf der Haut bzw. Psyche sind. Sie werden nicht weggehen, Du wirst sie immer sehen, wenn Du in den Spiegel siehst. Aber sie können Dir nichts mehr tun, sie selbst schmerzen auch nicht mehr, nur die Erinnerung daran. Denen, die wider Erwarten doch immer wieder aufbrechen, kannst Du nur Zeit, Ruhe und Pflege zur Genesung angedeihen lassen.
Nur verurteile Dich nicht dafür

Gestehe Dir Momente der Hoffnungslosigkeit zu, wie nach der Sitzung - aber verliere die Hoffnung nicht - Hoffnung gibt es immer

Ich kenne das Gefühl nur zu gut, wenn mir mein Therapeut oder auch aktuell die Coaching etwas sagen oder raten, was mir ansatzweise den Boden unter den Füßen wegzieht. Manches Mal sitze ich danach auch im Auto und frage mich, was ich genau falsch mache und was das alles noch für einen Sinn ergibt... Nach der x-ten Erfahrung dieser Art weiß ich aber mittlerweile auch, daß das Gefühl innerhalb von ein bis drei Tagen wieder vergeht und langsam die Sonne und die Hoffnung wieder zum Vorschein kommen. Die Hoffnung ist immer untendrunter, die Sonne immer da - nur manchmal sind ein paar übel dunkle Wolken davor
Ich hab lange gebraucht, und oft genug zaudere ich immer noch:
Aber gib es auf, zuviel Logik in etwas hinein interpretieren zu wollen, was sich aufgrund von Evolution, Biologie und psychischen Schutzmechanismen schlicht der Logik entzieht. Manches läßt sich erklären, manches nicht.
Und auch Deine Therapeutin hat nicht auf alles eine Antwort - mit manchem sind auch Therapeuten auf dem Holzweg
Du kannst echt stolz auf Dich und Deine Leistungen sein. Paß auf Dich, mach' keinen "Mist"

Das Leben hat noch viele schöne Momente
(Sorry - schon wieder viel länger geworden als vorgehabt

)
LG,
Alex