zum Zeitpunkt der Pubertät
zum Zeitpunkt der Pubertät
Unser Gehirn: ein Produkt der Erziehung
- Kann man sich das menschliche Gehirn als eine Art Hardware vorstellen? Unser Gehirn, diese »Hardware-, ist mindestens, so die Anthropologen, 30.000 bis 80.000 Jahre alt. In dieser Zeit hat es sich kaum verändert.
Das ist richtig. Seit der Homo sapiens aufgetreten ist und Bilder an die Wände von Höhlen gemalt hat, wird sich an den Gehirnstrukturen, mit denen man geboren wurde, nicht viel geändert haben - soweit es genetisch determinierte Architekturmerkmale sind. Aber die Gehirnentwicklung vollzieht sich ja nach der Geburt beim Menschen weiter, bis hin zur Pubertät, muss man vermuten. Und das bedeutet, dass das Gehirn zum Zeitpunkt der Geburt, also die Hardware, wie du sagst, nicht fertig ist. Dazu muss ich gleich einschränkend sagen, dass man im Gehirn zwischen Hard- und Software nicht unterscheiden kann. Das Programm für die Funktionen, welches determiniert, wie wir wahrnehmen, wie wir denken, entscheiden, handeln, dieses Programm liegt in der Verknüpfungsarchitektur der Nervenstränge. Wie diese miteinander verschaltet sind, wie stark die einzelnen Verbindungen untereinander sind, bestimmt letztendlich das Programm. Deshalb kann man sagen, dass das Hirn genetisch vorprogrammiert ist für ganz bestimmte Leistungen, aber beim Menschen, weil sich die Entwicklung der Hardware über so lange Zeit nach der Geburt erstreckt, kann die Architektur durch Erfahrungen verändert und ein Teil des Programms installiert werden. Das vollzieht sich nachweisbar: Man kann zeigen, dass Verbindungen, die nach der Geburt angelegt werden, zunächst im Überschuss angelegt sind und dann unter dem Einfluss von Erfahrung die passenden nach funktionellen Kriterien herausgesucht werden. Diese bleiben erhalten, während die, welche wir nicht benötigen, wieder eingeschmolzen werden. Auf diese Weise kommt zum Schluss, also wenn das Gehirn ausgereift ist, also zum Zeitpunkt der Pubertät, eine Architektur heraus, die sowohl genetische Determinanten hat als auch stark mitbestimmt und mitgestaltet wurde durch die Inhalte der Erziehung.
- Das würde aber dennoch bedeuten, dass ein Säugling aus dem Jahre 30.000 v. Chr., in unsere Zeit transportiert und in unserer Umwelt aufgewachsen, sich kaum von uns unterscheiden würde.
- Er würde so werden wie wir.
- Das heißt aber auch, dass Veränderungen in unserem Erziehungssystem auf uns nachdrücklichen Einfluss haben.
- Ja, nachhaltigen Einfluss haben müssen auf die Art, wie wir die Welt sehen. Und die unterschiedlichen Sichtweisen der Welt, die sich ja ganz offensichtlich vollzogen haben seit der Antike, können nur so erklärt werden, dass unsere Kinder anders erzogen werden und deshalb andere Architekturen haben, andere Sichtweisen, andere Verhaltensweisen. Sie sind geprägt wie die Lorenz'schen Graugänse.
- In der Erziehung unserer Kinder hat sich eine Revolution ereignet, die in der Zeitgeschichte kaum so recht beachtet wird. Erst seit etwa 200 Jahren geht jedes Kind ab dem 6. Lebensjahr in die Schule und wird dort einem sehr massiven Training unterworfen. Diese Revolution muss doch auch für die Gehirnentwicklung von ganz maßgeblicher Bedeutung sein?
- Ich denke schon. Wenn jemand von Kindesbeinen an trainiert wird, nur die rechte Hand zu benutzen, um Zeichen zu setzen, also zu schreiben, wenn jemand von früh an trainiert wird, Mathematik zu lernen, Fremdsprachen zu lernen, also sich ganz stark auf die sprachlichen Fähigkeiten des Gehirns zu konzentrieren, dann werden diese Bereiche stärker ausgebaut. Und was nicht trainiert wird, wird vernachlässigt. Wenn jemand z. B. schon im Schulalter anfängt, Geige zu lernen, dann weiten sich die Repräsentationen im Gehirn der linken Hand stark aus, nämlich der Hand, die die Saiten greift, im Vergleich zu einer normalen Person. Das passiert nicht, wenn man Geige erst als Erwachsener lernt. Und so muss man annehmen, dass für alle Funktionen, deren wir im Prinzip fähig sind - Malen, Komponieren, Tanzen usw., dass all diese Funktionen wahlweise mehr oder weniger gut installiert werden können, je nachdem wie wir sie trainieren. Wir trainieren ganz bestimmt zu einseitig unsere rationalen Fähigkeiten, dies ohne Zweifel. ... was da trainiert wird, ist vor allem die Erziehung zu einem rationalen, abstrakten Denken. Zuerst muss das Kind lernen, in Zahlen denken zu lernen, es muss lernen abzusehen von der vielfältigen sinnlichen Erfahrung und reduzieren auf die Mengenqualität. Dies ist einer der Vorgänge, der sicherlich nicht leicht für ein sechsjähriges Kind ist. Und das andere ist doch wohl, dass es lernen muss, in verbalen abstrakten Begriffen zu denken.
- Ja, abstrakt zu denken und seriell zu denken. Sprache erfordert ja das Erzeugen von Sequenzen, sowohl in Schrift als auch in Worten, während sehr viele unserer Wahrnehmungsleistungen, hier besonders die visuellen, parallel ablaufen. Hier wird gleichzeitig sehr vieles erfasst, was im Hirn parallel repräsentiert wird. Die große Schwierigkeit beim Erlernen von Sprechen und Schreiben ist, dass man dieses parallele Vorhandensein von Bezügen und Wissen im Gehirn in eine Sequenz von Zeichen bringen muss. Das ist für das Gehirn ein ganz unnatürlicher Vorgang.
- Ein Vorgang, der Informationen reduziert.
- Ja, jedenfalls nur einen Teilaspekt dessen, was vorhanden ist, berücksichtigt. Deshalb versucht ja auch jemand, der mehr ausdrücken will, als sich nur in einfachen Aussagesätzen sagen lässt, z.B. Gedichte zu schreiben, in denen die Informationen ja nicht nur in den Sequenzen von Worten enthalten sind, sondern auch in der Melodie und in dem, was zwischen den Zeilen ist, in der Form, wie es geschrieben ist, dies sind alles Versuche, die enge Begrenzung des Sprachkanals zu überwinden. Auch die Malerei und die Musik benützen andere Kanäle.
- Du beschäftigst dich besonders mit dem Sehen.
- Uns interessiert, wie der visuelle Wahrnehmungsvorgang abläuft. Aber was wir da finden, gilt gleichermaßen für die anderen Sinnesorgane. Sie sind gleich organisiert, da gibt es keinen Unterschied.
- Sehen markiert in der Evolution nicht die Endstufe der menschlichen Erkenntnisfähigkeiten, aber sie ist doch die Fähigkeit, welche die größte Menge an Information zu verarbeiten mag.
- Ja, das sieht man schon daran, dass im Gehirn des Menschen die Bereiche, die sich mit dem Sehen befassen, von allen Sinnessystemen den meisten Platz beanspruchen. Und zwar massiv mehr als alle anderen. Es ist geradezu erstaunlich, wie wenig Platz von dem System beansprucht wird, welches Sprache erzeugt, im Vergleich zu dem, welches Sehen ermöglicht.
- Uns „Sehleuten« füllt auf, dass wissenschaftliches Denken sich erstaunlich wenig am Sehen orientiert. Unser Wissen über die Bedeutung visueller Erkenntnis für Denkvorgänge, für kreative Prozesse, ist mager bestückt.
- Ich glaube nicht, dass das so ist. Wenn man die Physiker fragt, die ja die abstraktesten Theorien erstellen, oder die Mathematiker, dann sagen die sehr oft, dass sie versuchen, sich die Zusammenhänge bildhaft vorzustellen. Die verschiedenen Variablen werden an verschiedene Orte gesetzt und dann wird die Interaktion räumlich gesehen. Es werden Bewegungsabläufe imaginiert. Ich glaube, dass die visuelle Imagination eine ganz enorme Rolle spielt. Sogar bei Komponisten ist das so, dass sie sich den Ablauf ihrer Musik oft räumlich vorstellen müssen, damit sie die Partitur zusammenhalten können.
- Wir bekommen in der Tat von Naturwissenschaftlern gerade in diesem Zusammenhang die meisten positiven Rückmeldungen. Aber erstaunlich ist doch, dass die Imaginationsforschung in der Psychologie deutlich unterrepräsentiert ist.
- Wahrscheinlich weil Imagination so schwer fassbar ist und weil es der Tradition nicht entspricht. Sie lässt sich schlecht messen. Wir können sprachliche Leistungen, logische Schlüsse messen, aber es ist sehr viel schwerer, den impliziten Erfahrungsschatz, also den nicht in Sprache ausdrückbaren, zu messen.
- Und da die Wissenschaft an Zahlen hängt, am Messbaren, am Quantitativen, fand Imagination wenig wissenschaftliche Beachtung. Kann man das so verstehen?
- Die Wissenschaft ist ja eine Kunst der Verabredung und man versucht Unterscheidungen zu finden, die anderen plausibel erscheinen, die für andere nachvollziehbar sind, und Experimente zu machen, die für andere wiederholbar sind. Wenn hier der Bereich der symbolischen Darstellung, also die Konvention der Sprache verlassen wird, dann wird es natürlich schwierig, dies zu objektivieren. Ihr Künstler habt auch eine Sprachkonvention, ihr könnt euch aber uneins sein über das, was bestimmte Farbkompositionen bedeuten, während in der rationalen Sprache halt ein Konsens erzwungen worden ist durch Erziehung.
- Die Wissenschaft hat einerseits riesige Erfolge erzielt, Erfolge, die man sich vor zoo Jahren noch nicht vorstellen konnte, und 200 Jahre sind in der Menschheitsgeschichte eine ganz kurze Zeit, aber andererseits wird wenig reflektiert, dass der Mensch mit seinem ca. 30 000 Jahre alten Gehirn nicht immer ungeschickt umgegangen ist. Könnte es nicht sein, dass sein früheres Weltbild - man bat ja viel mehr in Bildern gedacht, in vieler Hinsicht komplexer und weiser gewesen ist, gerade deshalb, weil es nicht so linear, sequentiell, verlaufen ist und nicht so reduktionistisch in abstrakten Begriffen formuliert wurde?
- Es wird ja oft das Beispiel der nichtwestlichen Kulturen zitiert, die viel weniger Wert gelegt haben auf die rationale Durchdringung der Wirklichkeit, oder was man Wirklichkeit nennt. Sicher haben die auf ihre Weise auch Recht, und vielleicht haben diese Kulturen auch ein umfassenderes Bild von lebensrelevanten Inhalten, als wir das haben. Was ja oft auch die Verständigung schwer macht. Ich habe da ein schönes Beispiel: Ein chinesischer Kollege, der bei mir promoviert hat, hat bei uns Experimente nach westlichem Zuschnitt gemacht und wir haben dann Schlussfolgerungen gezogen. Dann ist es ja, nach unserem Ritus, immer notwendig, Kontrollexperimente zu machen. Wir machen dann Voraussagen, und es muss etwas Bestimmtes herauskommen. Es kam etwas anderes raus, als wir erwartet haben. Für uns eine Katastrophe. Es musste etwas falsch sein. Alles muss noch mal neu durchdacht werden. Für den chinesischen Kollegen aber war es überhaupt kein Problem. Er meinte, die Welt sei kompliziert, wir machen ein anderes Experiment, also kommt was anderes raus, so ist doch alles in Ordnung. Er hat also diesen Zwang der logischen Kohärenz von rationalen Argumenten nicht so empfunden wie wir. Es gibt also mehr als ein Richtig und Falsch, es gibt einen Zustand, wo die Dinge nicht aufgehen, und das ist auch recht.
- Ist es nicht so, dass die bedrohlichen Probleme, die sich heute stellen – Nuklearwaffen, Bevölkerungsexplosion, Umweltprobleme -, etwas damit zu tun haben, dass Wissenschaft zu sehr in ihren jeweiligen spezialistischen Bahnen gedacht hat, zu wenig in großen Zusammenhängen?
- Ich glaube, die Wissenschaft ist jetzt an einen Punkt gekommen, wo sie sich selbst beweisen kann, wo ihre Werkzeuge hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit Voraussagen zu machen grundsätzlich begrenzt sind. Die abendländische Wissenschaft hat sich selber beigebracht, dass man über die zukünftige Entwicklung komplexer Systeme wie z. B. Wirtschaftssysteme oder die Dynamik der Population, grundsätzlich keine Voraussagen über viele Stufen hinweg treffen kann. Selbst wenn die Anfangsbedingungen alle bekannt wären, gibt es zu viele kleine Störelemente, Entscheidungen, die in die eine oder andere Richtung lenken können. Man weiß vieles im Prinzip vorher nicht. Und ohne dieses Wissen lassen sich keine Voraussagen machen. Das heißt, rationale Verfahren zur Beherrschung komplexer Systeme haben ihre Begrenzungen. Das ist jetzt sichtbar. Das Dilemma ist, dass wir trotzdem entscheiden müssen, obwohl wir wissen, dass wir die rationalen Grundlagen für diese Entscheidungen gar nicht haben können. Deshalb wird man sich zunehmend wieder mehr auf Kriterien verlassen müssen, die einem zum Teil die Intuition nahe legt und Kriterien oder Wissen, die aus dem Kollektiv geschöpft werden.
- Nun ist es ja auch eine Sache der Erziehung, wie die Kultur der Menschen angelegt ist, und wir modernen Menschen sind nun mal in einer ganz bestimmten Art und Weise erzogen und alle - nicht nur die wissenschaftliche - stammen aus diesem Erziehungskonzept und verfügen deshalb über eine nur geringe Fähigkeit, in komplexen Zusammenhängen zu denken. Ich könnte mir vorstellen, dass hier gerade bildende Kunst, also eben komplexe kreative Vorgänge, auf der Basis der besonderen Komplexität des Sehens, in der Erziehung eine große Rolle spielen könnten.
- Ich glaube, dass mit allem, was sich nichtrationaler Sprachen bedient - die bildende Kunst, die Musik, der Tanz - ein Wissen transportiert wird, das über die rationale Sprache nicht transportiert werden kann. Mein Traum ist immer, dass eine Friedenskonferenz abgehalten wird, in der die Leute nicht immer nur quasseln und sich logische Argumente zuwerfen, sondern wo sie die Bedenken, die sie haben, die Sorgen, und die Einbettung in ihren Kulturkreis auf zusätzliche Weise vermitteln können, indem sie sich gegenseitig vormalen, vortanzen oder vormusizieren. Ich glaube, dass damit wesentlich mehr, aber vor allen Dingen die relevanteren Informationen vermittelt werden könnten als durch die rationale Sprache alleine. Ohne Verabredungen geht es auch hier nicht. Aber hierzu müssen die Kunst-Sprachen erlernt werden.
- In der Schule ist das Fach Kunsterziehung in den letzten Jahrzehnten nahezu halbiert worden, spielt nur am äußersten Rand der Schule nach eine Rolle - mehr zur Legitimation ; ist fast völlig aus dem Bildungskonzept heraus gefallen. Welchen Stellenwert würdest du der Kunsterziehung geben?
- Das kann ja nur bedeuten, dass unsere Kommunikation verarmt. Ich schaue immer neidvoll auf die Renaissance, wo die Leute noch in der Lage waren, mit Bildern ganz komplexe Botschaften zu vermitteln. Durch die Erziehung, durch die Sehschulung und durch die Schulung der Maler war so etwas wie eine Bildsprache entstanden, die auch verbindlich war. Die Symbole hatten ganz bestimmte Bedeutungen. Das wusste jeder, und so konnte in Bildern etwas dargestellt werden, was sich in Worten nur ganz schwer fassen lässt. Das sieht man ja, wenn man die Kunsthistoriker beim Schreiben ertappt. Wie sie unter großen Mühen versuchen, uns klar zu machen, was in den Bildern alles vermittelt worden ist. Das Bild spricht für sich selber, da müssen wir gar nicht mehr viel darüber reden. Man kann's oft wahrscheinlich auch gar nicht. Stell mal Trauer mit Worten dar, das kann unendlich mühsam sein, aber wenn das gut gemalt ist ...
- jetzt hast du ja auch den Gang deiner Kinder durch die Schule erlebt ...
- Katastrophe!
- Hast du dir manchmal Gedanken gemacht, wie für dich ein ideales Schulsystem aussehen könnte?
- Ja. Es hatte alles bei uns ideal angefangen. Solange wir noch in München waren, haben wir unsere Kinder in Mal- und Bastelschulen gebracht, wo sie sich sehr viel mit ihren Händen ausdrücken mussten. Kinder machen das spontan ja auch am liebsten. Es gelingt ihnen auch. Diese Zeit war geprägt von Fröhlichkeit. Dann sind sie in die Schule gekommen und mussten erst mal all diese Beschäftigungen aufhören, weil sie keine Zeit mehr hatten. Es ist auch nicht weiter trainiert worden in der Schule, sondern die haben da angefangen, Rechtschreiben und Mathematik zu lernen - was ja auch in Ordnung ist. Wenn sie das wenigstens anständig gemacht hätten, wäre ich ja zufrieden, aber als wir dann nach Hessen gekommen sind, hat das auch mit einem Schlag aufgehört. Dann wurde überhaupt nur noch die Diskursfähigkeit im datenfreien Raum - wie ich das nenne - trainiert. Sie mussten einfach nur argumentieren lernen, endlos ohne Inhalt. Das war ziemlich katastrophal. Jetzt langsam erholen sie sich, weil das Studium zum Glück chaotisch und so frei ist, dass man etwas anderes nebenbei machen kann. Aber damals ist immens viel versäumt worden. Das Fach hieß früher Kunsterziehung - ein schreckliches Wort.
- »Erziehung durch Kunst, wäre besser, aber umständlich.
- Man müsste mit der gleichen Berechtigung, so wie man Englisch lernt, dem Kind beibringen, sich in anderen Ausdrucksmöglichkeiten zurechtzufinden.
- In verschiedenen Bundesländern heißt dieses Fach nicht mehr Kunsterziehung, sondern schlicht »Bildende Kunst„.
- Aber nicht nur über bildende Kunst lernen, sondern sie machen lernen.
- In den letzten Jahrzehnten ist die Entwicklung so verlaufen, dass im Abitur der Schüler in Kunst jetzt einen Aufsatz schreiben muss, eine Bildbetrachtung. Vor dieser fatalen Anpassung an die verbalistische Schule mussten die Schüler ein Bild malen.
- Ich musste auch noch ein Bild malen. Es sollte halt auch wie in den anderen Fächern im Medium gehandelt werden. Man schreibt ja auch nicht im Fach Englisch in deutscher Sprache über englische Literatur.
- Es war eine Entwicklung, in der die Kunsterziehung versuchte, sich zu legitimieren, eben wissenschaftliche Strukturen anzunehmen.
- Aber damit hat sie sich natürlich ins Bein geschossen. Sie hat sich versklavt unter dem System, welches sie eigentlich überwinden wollte. Ich kann dir nur beide Hände reichen, wenn du solche Standpunkte vertrittst, weil ich wirklich glaube, dass man den Möglichkeiten, die das Gehirn hat, nicht gerecht wird, wenn man es von Anfang an auf die relativ schmale Schiene der rationalen Leistungsfähigkeit trainiert. Es ist zwar sehr schön, auch sehr nützlich. Nur wenn dabei die Traditionen mal zerbrochen sind, ist es sehr schwer, das wieder aufzubauen, weil die Vermittler fehlen.
Für ganz besonders wichtig halte ich, dass die frühen Instruktionen, die durch Erziehung die Architektur im Gehirn verändern, irreversible Folgen haben. Versäumnisse lassen sich später nicht mehr nachholen. Beim Spracherwerb versteht das jeder. Wenn Kinder bis zu einem gewissen Alter nicht sprechen gelernt haben, dann wird das nie wieder gut. Für die visuelle Wahrnehmung kennen wir das auch: Wenn Kinder aus irgendwelchen Gründen die ersten Lebensjahre über blind waren und man die Augen erst später zum Sehen brachte, dann erlangen sie nie wieder die normale Sehtüchtigkeit. Ähnlich wird das für die anderen Wahrnehmungs- und Ausdrucksfunktionen sein. Wenn man den Kindern von Anfang an den Umgang mit Formen und Farben angeboten hätte, so wie sie Deutsch lernen, dann könnte sich wahrscheinlich jeder von uns bildlich ausdrücken.
- Ich habe bei Friedrich Schiller einen schönen Spruch gefunden: »Der abstrakte Denker hat deshalb gar oft ein kaltes Herz, weil er die Eindrücke zergliedert, die doch nur als ein ganzes die Seele rühren. « Hat das nicht damit zu tun, dass sinnliche Wahrnehmungsprozesse viel enger verbunden sind mit den Emotionen?
- Ich glaube, das hat damit zu tun, dass ins Bewusstsein ja nur ein ganz kleiner Teil der Information kommt, die im Gehirn ständig verarbeitet wird, und zwar nur der Teil, der mit Aufmerksamkeit belegt wird. Es kann durchaus sein, dass wir aufgrund unseres Trainings bevorzugt nur noch die Informationen ins Bewusstsein lassen, die sich logisch, vernünftig ordnen und in Sprache ausdrücken lassen. Weshalb wir ja auch so stark Bewusstsein immer mit Sprache verbinden, was möglicherweise gar nicht so sein muss. Und weil das, was in diesem sprachlich ausdrückbaren Teil unseres Bewusstseins nur eine ganz kleine Menge ist von dem, was tatsächlich vorhanden ist, ist das, was wir sprachlich ausdrücken können, weit weg von dem, was Emotionen bestimmt und was handlungsrelevant ist. Jeder weiß, dass man ziemlich distanziert und kalt Beliebiges aussprechen kann, auch Lügen. Wissenschaftler, die sehr viel diesen rationalen Apparat benützen müssen, kennen das Phänomen, dass man sich ganz von der erlebten und emotional besetzten Wirklichkeit mit Theorien ablösen kann. Oder: Wenn man kalten Zorn hat, kann man Sachen sagen, die ungeheuerlich sind. Das ist gefährlich und wahrscheinlich eine der Folgen des Umstandes, dass wir so stark auf diesen einen Kanal fokussiert worden sind.
- Hat das nicht mit Werteproblematik und Sinnfindung zu tun, die heute so aktuell sind?
- Da müsste man fragen, wo kommt überhaupt das Wissen her, das als Maxime für unser Handeln dient. Ich denke, es kommt zum allergrößten Teil aus der kollektiven Erfahrung, die die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung gemacht hat. Das Wissen, das sich früher in Glaubenssystemen und Riten verdichtet hat, und darin vielfach seinen Ausdruck fand - bis auf die rationale Darstellungsebene in der Philosophie -, vermittelten die Religionsschriften in gleichnishaften Bildern. Dieses System wurde weitestgehend durch die Wissenschaft zerstört - denke ich-, dennoch muss man aber dauernd nach irgendwelchen ethischen Normen handeln, aber das ist impliziertes Wissen, weil wir nicht recht sagen können, wo es herkommt. Natürlich ist dieses Wissen in unserer Erziehung tradiert worden, es sitzt in der Tiefe unseres Gehirns, wo es für die sprachliche Aufbereitung nicht zugänglich ist, wir wissen einfach, dass etwas so und so richtig ist.
- Wenn ich sage »Kunst«, sage ich ja eigentlich auch » wertvoll«. Ist dieser Bezug zu einem Bereich, in dem etwas nicht rationalisierbar, wertvoll, schön oder Kunst sein kann, nicht ein wichtiger Erfahrungsbereich in der Erziehung? Ich merke z. B. bei den Studenten, dass sie viel betroffener sind über die Beurteilung ihrer künstlerischen Leistung. Haben sie in wissenschaftlichen Fächern etwas verbockt, nehmen sie das leichter hin und sagen sich, da habe ich eben zu wenig gelernt.
- Das ist interessant und zeigt, dass im Grunde das, was wir sprachlich und rational tun, sehr weit weg von unserer Persönlichkeit ist, dass dies sehr weit weg ist von den darunter liegenden Prozessen. Da sagen wir halt: »Da haben wir uns getäuscht.« Hat man sich dagegen »vermalt«, geht es an die Substanz. Das passiert Wissenschaftlern schon auch.
Wenn man im Vorfeld Fehler macht, dort wo die Intuition ausschlaggebend ist und wo ästhetische Prinzipien eine Rolle spielen, also dort, wo man neue Zusammenhänge erahnt, nimmt man sich Fehleinschätzungen sehr übel. Das wird einem auch übel genommen, denn dann ist der Ansatz schlecht, die Hypothese. Das ist ehrenrührig.
Wenn in der folgenden Aufarbeitung, im logischen Schluss usw. ein Fehler liegt - mein Gott, dann hat man sich eben verrechnet. Vielleicht ist es wichtig früh zu lernen, das Wichtigste zu sehen, nach Konsistenz oder Kohärenz zu streben und sich erst zufrieden zu geben, wenn das Gebäude abgeschlossen ist. Das ist zwar bei wissenschaftlichen Theorien auch erforderlich, aber als Schüler wird man nicht dahin getrieben. Das fängt erst viel später an. Während man beim Malen von Bildern wahrscheinlich schon ganz früh mit diesem Problem konfrontiert wird; denn da geht es erstens um Kreativität und zweitens um das Training der Sensibilität, darauf zu achten, dass etwas stimmig ist, auf eine nicht rational fassbare, aber doch sehr deutlich erfahrbare Weise. Bei einer wissenschaftlichen Theorie weiß man, noch ehe sie bewiesen ist, dass sie richtig ist, weil sie ästhetisch befriedigend ist. Nicht weil sie logisch in sich stimmig ist, sondern einfach weil sie sich »richtig anfühlt«. Dabei benutzt man Kriterien, die weit über das hinausgehen, was man logisches Schließen nennt.
- Stichwort Kreativität. Wir heben ja darauf ab, dass die Beschäftigung mit Kunst ein Training in Kreativität ist ...
- Es ist schwierig, Kreativität zu definieren.
Im wissenschaftlichen Bereich ist Kreativität in der Regel die Fähigkeit, etwas zusammen zu sehen, was bisher noch nicht zusammen gesehen worden ist.
Also zwischen Komponenten neue Bezüge herzustellen. Ganz Ähnliches läuft ab, wenn man aus dem Nichts etwas erzeugen will, auf weißer Leinwand ein Bild. Man muss anfangen, den Raum einzuteilen, man muss Elemente vorsehen, sie zueinander in Bezug setzen, Bezüge herstellen, die nicht beliebig sind, sondern Sinn ergeben.
Wobei auch hier wieder nicht rationalisierbar ist, was das letztlich bedeutet. Zu üben und zu erfahren, wie schwer das ist, das, glaube ich, kann jeder. Da muss man nicht als Künstler geboren sein. Aber wo wird das geübt?
In der Schule müssen die Schüler allenfalls irgendwelche Sachen nachzeichnen, wenn sie überhaupt das noch müssen. In Kunsterziehung musste ich Pferdeschädel abmalen. Das war ja nicht sonderlich kreativ. Ich bin nie aufgefordert worden, ein bestimmtes Gefühl darzustellen oder mich über die Farbe mitzuteilen.
- Es gab vor 20 Jahren ein viel diskutiertes Buch: »The Medium is the Message« von McLuhan. McLuhan meinte, dass die Art und Weise, wie die Nachrichten vermittelt werden, von prägender Bedeutung sei, mehr als ihr Inhalt. Man könnte heute vielleicht auf unser Fernsehzeitalter diesen Gedanken anwenden.
- Das Wort beginnt wirklich in den Hintergrund zu treten. Wenn man mit Fernsehjournalisten zusammenarbeitet, erlebt man, dass sie hauptsächlich auf gute Bilder aus sind. Was dazu noch geredet wird, berührt sie wenig. Es geht nicht darum, didaktische Bilder zu machen, sondern Bilder, die aufreizen.
- Es besteht ein zeitlicher Zusammenhang, der merkwürdig ist. Öffentliches Bewusstsein für Umwelt, für komplexere Zusammenhänge sind erst ab diesem verrufenen Fernsehzeitalter entstanden. Auch in der Wissenschaft werden ganzheitliche Aspekte erst in den letzten Jahrzehnten virulent.
- Es ist immer schwer zu sagen, was Henne und Ei ist. Es wäre eine interessante Frage, wie sich Wahrnehmung und Wirklichkeit aufgrund von Erziehung und Erfahrung epochenspezifisch verändern, wie dann aufgrund dieser veränderten Wahrnehmung sich neue Theorien bilden, wie diese wieder die Welt verändern und daraus wieder neue Wahrnehmungen entstehen. Kriterien, die weit über das hinausgehen, was man logisches Schließen nennt.