ziemlich schwierig
ziemlich schwierig
In der Diagnostik ist es wichtig, dass die dem Untersucher oft etwas merkwürdig oder überzogen vorkommenden Befürchtungen ernst genommen und aus dem Bezugsrahmen des Patienten heraus verstanden werden, um das Beschwerdebild einordnen und adäquate Hilfe anbieten zu können. Die individuellen Erlebnisqualitäten und verzerrten Standards lassen sich oft durch entsprechende Informationen und Aufklärung wirkungsvoll korrigieren.
In anderen Fällen sind sie allerdings Indikatoren tiefer verwurzelter Ängste oder negativer Erfahrungen and benötigen weitergehende sexualmedizinische und/oder psychotherapeutische Interventionen.
In den meisten Fällen wird eine Appetenzproblematik innerhalb einer Paarbeziehung manifest, und zwar als Diskrepanz oder Gefälle im sexuellen Verlangen beider Partner.
Ist diese Diskrepanz ausgeprägt oder besteht sie über lange Zeit, kommt es zu den typischen Konstellationen, die man als Rückzug-Rückzug-Polarisierung oder als Rückzug/Vormarsch-Polarisierung bezeichnet.
Bei der Rückzug-Rückzug-Polarisierung reagiert auch die Partnerin mit einem Rückzug. Das sexuelle Problem wird kaum zum Thema gemacht, und die Beziehung erscheint weniger konflikthaft und belastet. Tatsächlich kommt es aber zumeist zu einem Rückgang oder völligen Brachliegen nicht nur der Sexualität, sondern der Intimität in jeder Form, verbunden mit einem Erkalten und Erstarren der Beziehungsdynamik. Diese Konstellation prädestiniert zu jener plötzlichen, scheinbar unvermittelten Dekompensation des fragilen Gleichgewichts und zu Trennungen, die für Außenstehende kaum nachvollziehbar sind.
Bei der Rückzug-Vormarsch-Polarisierung, in der sexualmedizinischen Praxis häufiger, weil in diesem Fall eher professionelle Hilfe gesucht wird, kommt es zu einer Verteilung von Drängen auf der einen und Verweigerung bzw. Vermeidung auf der anderen Seite. Das Appetenzgefälle wird zu einem dauerhaften Konfliktherd, der fast immer auf andere Beziehungsbereiche übergreift und dem eine Tendenz zur Eskalation eigen ist.
Der Mann wird hier oft von der Partnerin zur Behandlung gedrängt oder sucht diese selbst aus Angst vor einem Zerbrechen der Beziehung.
In einer weiteren, in der Sprechstunde bisweilen auch vorkommenden Variante wird die untergeordnete Bedeutung der sexuellen Aktivität und die geringe Frequenz sexueller Kontakte von beiden Partnern beklagt. Beide geben an, "eigentlich" an Sexualität interessiert zu sein und keine Probleme in diesem Bereich zu haben, aber aufgrund starker beruflicher oder familiärer Belastung, ständiger Müdigkeit bei den wenigen Gelegenheiten oder wegen eines ganz unterschiedlichen Tag-Nacht-Rhythmus doch nicht zusammen zu kommen. Im Laufe der Zeit, und nachdem eigene Lösungsversuche fehlgeschlagen sind, verselbstständigt sich dieses Problem und wird von einem Partner oder von beiden als Manko der Beziehung wahrgenommen. Die Motivation zur Veränderung und Hinterfragung ist allerdings in diesen Fällen erfahrungsgemäß sehr ambivalent, und eine Behandlung kommt selten zustande.
Bei den Paargebundenen Appetenzproblemen des Mannes ist eine diagnostische Einschätzung und v.a. eine Erfolg versprechende Therapieplanung ohne Einbeziehung der Partnerin kaum möglich.
Hat der Erstkontakt mit dem Mann allein stattgefunden, hat sich in der Praxis dabei ein Vorgehen bewährt, bei dem auch der Partnerin zunächst Gelegenheit gegeben wird, mit dem Behandler allein zu sprechen. Daran schließt sich unmittelbar ein Paargespräch an, in dem die Ergebnisse der Einzelgespräche zusammengetragen und offene Fragen gemeinsam geklärt werden können. Dieses Vorgehen und speziell die Paargespräche machen auf Seiten des Untersuchers gerade bei Paargebundenen Appetenzproblemen ein hohes Maß an "therapeutischem Fingerspitzengefühl", empathischem Geschick und Verständnis der Systemdynamik der Paarbeziehung notwendig.
Das ist deshalb der Fall, weil die sexuelle Appetenz von den Partnern meist als besonders heikles Feld empfunden wird und eine große Verletzlichkeit besteht.
Fast immer geht es um die Frage, ob die eigene Attraktivität nachgelassen hat, Liebe und Zuneigung noch ausreichend besteht, das Fundament der Paarbindung noch tragfähig ist, eine andere Frau im Spiel ist etc. Diese Faktoren müssen im Blickfeld des Untersuchers sein, ohne seine Handlungsfähigkeit zu lähmen.
Inhaltlich sollte in der Diagnostik paargebundener Appetenzprobleme auf folgende psychosoziale Faktoren besonders geachtet werden.
Sexuelle Funktionsstörungen des Mannes
Unterschiede in den Vorlieben der Partner bezüglich der Frequenz sexueller Kontakte und des Ablaufs sexueller Interaktionen.
Zilbergeld geht davon aus, dass die bevorzugte Grundhäufigkeit sexueller Aktivität eine relativ fest verankerte persönliche Größe ist, die im Lauf des Lebens eher geringen Schwankungen unterworfen ist (etwa in Phasen intensiver Verliebtheit oder in Zeiten von Krankheit bzw. Belastung).
Die gewünschte Frequenz sexueller Aktivität kann sich in einer Paarbeziehung demnach unterscheiden, ohne dass dies Indikator eines Konflikts sein muss, der aus der Diskrepanz dann aber meistens entsteht.
Die Gründe für die bestehende Unzufriedenheit mit der Partnersexualität (neben dem Appetenzgefälle) sollten detailliert erfasst wer den und von der - ebenfalls detailliert zu erfragenden - Unzufriedenheit mit der allgemeinen Beziehung abgegrenzt werden.
Da Paargebundene Appetenzprobleme zumeist sekundär sind, ist zu eruieren, welche Faktoren zu der Veränderung geführt haben.
Ein besonders wichtiger Bereich, der möglichst frühzeitig geklärt werden sollte, betrifft die genauen Wünsche und Erwartungen der Partner aneinander. Die Angabe -mehr (bzw. weniger) Sexualität- ist viel zu pauschal und keine ausreichende Grundlage für die weitere Evaluation und Behandlungsplanung. Dabei gilt es auch die Motive und Gründe der drängenden oder unzufriedenen Partnerin für ihren Wunsch nach häufigeren sexuellen Kontakten zu hinterfragen. Im Drängen nach Sexualität kommen fast immer Bedürfnisse nach Intimität, Nähe, Austausch, Zusammengehörigkeit oder Bestätigung zum Ausdruck, die entweder von vornherein oder im Zuge der sich verschlechternden Paarbeziehung unbefriedigt bleiben. Die Benennung und Differenzierung dieser Motive im diagnostischen Prozess fördert das gegenseitige Verständnis, entlastet die sexuelle Beziehung und eröffnet Veränderungsräume (s. Zilbergeld 1994).
Schwieriger noch als die Untersuchung der bis hierhin aufgeführten inhaltlichen Bereiche ist die Klärung der verborgenen Motive, die an der Sexualvermeidung beteiligt sind. Levine (1995) verweist darauf, dass diese verborgenen Motive besonders beeinflusst werden von der Qualität der nichtsexuellen Beziehung, der Kompatibilität der sexuellen Identität beider Partner, dem Einfluss der Erfahrungen mit wichtigen Bezugspcrsonen und den Möglichkeiten, die dem Paar zum Aushandeln ihrer
sexuellen Beziehung zur Verfügung stehen. In ihrer Tiefendimension betrachtet Levine Appetenzprobleme als eine Erotisierungs-Abwehr, die er durch drei Fragen zu spezifizieren versucht:
(1) Beruht die übersteigerte Erotisierungs-Abwehr auf aktuellen Belastungsfaktoren (Depression, Verlust, Trauer u. a.) ?
(2) Richtet sich die übersteigerte Erotisierungs-Abwehr gegen anflutende Erinnerungen erlittener (physischer/sexueller) Missbrauchserfahrungen?
(3) Beruht die Erotisierungs-Abwehr auf dem Unvermögen der Partner, ihre individuellen Bedürfnisse nach körperlicher Intimität zu verstehen und auszuhandeln?
Für Levine spiegelt das sexuelle Verlangen die persönliche Fähigkeit wider, die biologischen, psychologischen und sozialen Kräfte, die das sexuelle Erleben und Verhalten organisieren, sinnvoll zu integrieren. Vor dieser Aufgabe steht sowohl die einzelne Person als auch das Paar. Für den fortlaufenden Prozess der Integration und Justierung in der Dyade hat Levine den Begriff des sexuellen Equilibriums geprägt, mit dem er das komplexe und vielschichtige Ineinandergreifen der biographischen und sexuellen Merkmale der Partner umschreibt. Das möglichst weitgehende Erfassen und Reflektieren dieses Equilibriums ist Anspruch und Ziel sexualmedizinischer Diagnostik paargebundener Appetenzprobleme.
Eines der wenigen Behandlungsprogramme bei Appetenzstörungen, das sich spezifisch mit den Störungen des Mannes beschäftigt, stammt von McCabe (1992). In einem multimodalen Therapiekonzept wurde dabei versucht, intrapsychische Konflikte und Beziehungsfaktoren zu bearbeiten, das sexuelle Repertoire zu erweitern, Einstellungen zu verändern und die sexuelle Kommunikation zu verbessern.
Dafür wurden im Wesentlichen drei therapeutische Strategien eingesetzt: Kommunikationsübungen Sensualitätsübungen nach Masters & Johnson sowie die Technik der angeleiteten erotischei Phantasie (guided fantasy). McCabe macht angesichts der kleinen Stichprobe und des Pilotcharakters ihres Konzepts nur kasuistische Angaben zu den Behandlungsergebnissen. Sie berichtet, dass viele Männer die Therapie mit de Überzeugung begonnen haben, sie könnten ein stärkeres Interesse am Sexualität (wieder)gewinnen, ohne sich mit ihren persönlichen Einstellungen, Reaktionen und Verhaltensweisen außerhalb der sexuellen Funktion im engere Sinne auseinandersetzen zu müssen. Die Therapie, in die grundsätzlich die Partnerin einbezogen wurde, führte zu Verbesserungen in de Kommunikation, sexuellen Erregung und Zufriedenheit mit der Partnerschaft, die auch im Follow-Up stabil blieben. Auch im Bereich de Versagensgefühle und sexuellen Ängste gab es Verbesserungen. Problematisch blieb die sexuelle Appetenz, das spontane sexuelle Interesse und die Initiierung sexueller Kontakte, wenngleich positive Trends auch dort feststellbar waren.
Die Erfahrungen aus der Studie von McCab decken sich mit denen anderer Zentren und Therapeuten. Einstellungs- und Verhaltensaspekte, aber auch die Kommunikation und andere Beziehungsbereiche lassen sich leichter und nachhaltiger beeinflussen als das sexuelle Verlangen selbst.
Viele Männer mit Appetenzproblemen weisen grundlegende emotionale Defizite auf, die u. a. dazu führen, dass ihnen die Kodifizierung innerer wie äußerer Reize in erotische Stimuli nicht oder nur eingeschränkt möglich ist.
Das Therapieziel -learning to be sexual- lässt sich daher nicht isoliert erreichen, sondern nur als Teil eines umfassenderen Zugangs, gegen den allerdings oft eine starke Abwehr besteht. Gelingt es dennoch, hier ein Arbeitsbündnis mit dem Patienten aufzubauen, ist die Prognose nicht schlecht.
Aus den oben genannten Gründen nun standardisierte Therapiekonzepte anzubieten, wird kaum möglich sein, es ist aber wichtig, die Grundlagen und die klinische Forschung zu intensivieren, um innovative Behandlungsstrategien zu entwickeln.