RE: seit 15 Jahren kein Orgasmus........
Man unterscheidet zwischen der Behandlung der totalen Anorgasmie, der Anorgasmie im Partnerbezug sowie der koitalen Anorgasmie.
Einige Frauen haben noch niemals einen Höhepunkt erlebt (totale Anorgasmie), vielleicht aus Mangel an richtiger Stimulation oder weil der Orgasmusreflex im Übermaß gehemmt ist. Übereinstimmend gilt bisher als effektivste Stimulationstechnik die Selbstbefriedigung, die der Frau erlaubt, die für sie optimale Stimulierung zu identifizieren und sie gleichzeitig von Hemmungen entlastet, die aufgrund von Beobachtung und Erwartungsdruck durch einen Partner behindernd vorhanden sein können.
Voraussetzung ist, dass die Frau eventuelle Vorurteile und Schuldgefühle gegenüber Masturbation abbauen kann. Für viele Frauen ist der Hinweis hilfreich, dass es sich hier ja nicht um die von ihnen abgelehnte Selbstbefriedigung (als Selbstzweck oder vermeintliche Ersatzhandlung) handelt, sondern um einen Weg, die Beziehung zu sich selbst als auch zum Partner zu verbessern.
Des weiteren müssen unbewusste Orgasmushemmungen, deren Wurzeln häufig in Sexualverboten der Kindheit liegen beseitigt werden - seien es Ängste um Bestrafung für sexuelle Lustempfindungen, seien es Schuldgefühle in Bezug auf Lust und Glück. Auch Informationsvermittlung zur Masturbationstechnik kann hilfreich sein, sowie die Ermutigung der Frau, die sie stimulierenden sexuellen Phantasien zu erkunden.
Wie sehr tief verwurzelte Sexualverbote die Entfaltung des Orgasmuserlebens behindern können, demonstriert die folgende Beispiel:
Fallbeispiel: Primäre Anorgasmie
Die 24-jährige Frau X leidet darunter, in der neunjährigen Beziehung zum Freund noch nie einen Orgasmus erlebt zu haben. Erst nachdem die Patientin jahrelang den Höhepunkt vorgespielt hatte, gelang es ihr mit dem Partner über das Problem zu sprechen. Ob wohl das Paar sexuell viel experimentiert (verschiedene Stellungen, variantenreiches Vorspiel), ist der Orgasmus bisher nicht gelungen. Der Freund fürchtet in zwischen, es liege an ihm, und leidet unter dem Mangel. Manchmal hat die Patientin schon ganz die Lust zu sexueller Aktivität verloren, die ihr sinnlos er scheint, "wenn ich zum Schluss doch nichts davon habe".
Manchmal jedoch kann sie den Sexualkontakt genießen, auch wenn der Höhepunkt fehlt. Der verständnisvolle und bemühte Partner gibt ihr die von ihr gewünschte Stimulation, über die sie ohne Scheu mit ihm sprechen kann. Auch durch Selbststimulation kann sie hohe Erregungsstufen erreichen, jedoch nicht den Orgasmus. Eine Steigerung ihrer Erregung tritt auch ein durch "merkwürdige" anregende Gedanken und Phantasien "von brutalen Männern", die sie hinterher beunruhigen. "Ich verstehe mich selbst nicht - in dem Moment kann ich die Phantasien genießen, hinterher denke ich: "Oh Gott, das gehört sie nicht'." Wenn Frau X erregt ist, bricht sie die Selbststimulation plötzlich ab, muss aufstehen und sich die Hände waschen. "Als habe ich mich beschmutzt und muss mich wieder reinwaschen." "Als wenn ich es mir selbst verbiete. Ich breche es ab, wenn es besonder schön ist." Frau X schämt sich auch wegen ihres Körpers, an dem sie viel auszusetzen hat. Sie hat große Hemmungen, sich dem Partner nackt zu zeigen. Auch FKK oder Sauna lehnt sie ab. "Man tut das nicht."
Es wird deutlich, dass bei dieser Frau zu nächst die Bearbeitung der tief liegenden Sexualverbote bzw. ihrer "sexuellen Weltanschauung" in den Mittelpunkt der sexualtherapeutischen Maßnahme treten muss. Die Unfähigkeit durch Koitus zum Höhepunkt zu kommen, ist bei Betrachtung der weiblichen Anatomie und Physiologie nicht überraschend, da der sensorischen Stimulation im Bereich der Klitoris in der Regel große Bedeutung für die Auslösung de Orgasmus zukommt. Dafür bietet der Geschlechtsverkehr mechanisch gesehen kein günstige Voraussetzung, wenn auch der Koitus psychologisch betrachtet eine stark erregend und emotional befriedigende Reizqualität beinhaltet.
Wahrscheinlich können nur Frauen m relativ niedriger Orgasmusschwelle durch Koitus allein (ohne klitorale Stimulation) zum Höhepunkt kommen - das sind nach Schätzunge nur ein Drittel bis die Hälfte der amerikanischen Frauen, wobei die übrigen entweder intensivere klitorale Stimulierung benötigen (mit der Diagnose "nicht pathologisch gehemmt") oder aufgrund seelischer Hemmungen eine hohe orgastische Schwelle aufgebaut haben. Erstere profitieren von Bestätigung und Beratung, letztere benötigen sexualtherapeutische Maßnahmen.
Als hilfreich erweist sich das sog. "Brücken-Manöver", das darauf zielt, die Frau klitoral bis kurz vor den Orgasmus zu stimulieren und dann die koitalen Beckenbewegungen den Orgasmusreflex auslösen zu lassen. Dies ist eine "Brücke zwischen klitoraler Stimulierung und Koitus" (Kaplan 1987).
Unabhängig von der Stimulationsform stellt jeder Orgasmus normalerweise eine lustvolle Erfahrung dar, vorausgesetzt, dass keiner der Partner den nicht koitalen Orgasmus als das "Zweitbeste" ansieht.
Das sexualtherapeutische Vorgehen besteht allerdings nicht nur aus mechanischen Übungen, sondern auch aus durchgreifenden Haltungsänderungen der Frau, um z.B. Verantwortung für die eigene Befriedigung zu übernehmen, sicherzustellen, ausreichend stimuliert zu werden und sich nicht gänzlich auf Sensibilität und Entgegenkommen des Partners zu verlassen. Dazu gehört auch, die eigenen sexuellen Bedürfnisse akzeptieren zu lernen statt Sexualität als Mittel zu betrachten, dem Mann zu gefallen.
Bei aller therapeutischen Vielfalt wird der "Kampf" um den weiblichen Orgasmus aber auch häufig in Frage gestellt. Jedenfalls ist der Orgasmuszwang, der seit der sog. sexuellen Revolution auch die Frauen erreicht hat, ebenso kritisch zu betrachten, wie der schon ältere Potenzzwang auf Seiten der Männer.
Auf jeden Fall ist es wichtig, den Frauen in der Therapie zu vermitteln, dass es keinen "einzig richtigen" oder "normalen" Orgasmus gibt, sondern dass dieser durch vielerlei Stimulierungsarten ausgelöst werden kann, die nicht auf Penis Vagina Kontakte begrenzt sind.
Es würde vielen Frauen zu weitaus größerer Befriedigung und sehr viel besserer Funktion verhelfen, wenn die große Bandbreite weiblicher sexueller Reaktionen mit verschiedenen Orgasmusarten und unterschiedlichen Formen von sexueller Stimulation akzeptiert würde, und das Dogma von dem einzig wahren Orgasmus- oder Stimulationstyp endlich aufgegeben würde.