Re: Schielen bei Vorschulkind
Hallo, herzlichen Dank, mit diesen Informationen kann man schon etwas mehr anfangen. Gleichwohl ist es ein komplexes Thema, sodass ich prinzipiell dazu raten würde, Orthoptistin und Augenarzt solange zu löchern, bis Sie verstanden haben, worum es geht und was ihr Sohn eigentlich hat! Das ist Ihr gutes Recht und vor allem notwendig für die Akzeptanz und Compliance hinsichtlich der erforderlichen Behandlungen. Ich möchte versuchen - natürlich unter Vorbehalt und in Unkenntnis der tatsächlichen Befunde - den Sachverhalt zu erklären.
1. Diagnostik: offensichtlich ist man sich nicht ganz im Klaren darüber, was Ihrem Sohn eigentlich fehlt. Es gibt einen kosmetisch kleinen Innenschielwinkel, der sich ab und an - womöglich in regelmäßigen Abständen - deutlich vergrößert. Die Brille hat keinen wesentlichen Einfluß darauf. Es gibt ein Führungsauge, trotzdem kann auch einmal das andere Auge schielen. Es liegt hin und wieder ein grobes beidäugiges Sehen vor, die Sehschärfe ist annähernd seitengleich.
Nach meinem Dafürhalten könnte es sich um einen sog. dekompensierenden Mikrostrabismus handeln. Für diese Diagnose spricht der überwiegend kleine Schielwinkel und die festgestellte anomale Korrespondenz mit wackeligem Binokularsehen. Die Tatsache, dass sich der Schielwinkel immer mal wieder stark vergrößert, bedeutet lediglich, dass sich hinter dem manifesten kleinen Schielwinkel ein weiteres - deutlich größeres - Schielen verbirgt, das aus welchen Gründen auch immer ab und an zutagetritt. Man nennt dies eine "latente Komponente". Es ist zudem nichts ungewöhnliches und drückt aus, dass es neben der vorwiegend sensorischen Anomalie eines Mikrostrabismus auch eine motorische Seite gibt, die sich in bestimmten Situationen in einem großen Innenschielen ausdrückt.
Man kann solch einen Mikrostrabismus mit entsprechenden Untersuchungen ziemlich genau diagnostizieren und ihn von anderen Krankheitsbildern, die hier möglicherweise in Frage kämen, deutlich abgrenzen. Bei einem normosensorischen Spätschielen hätte Ihr Sohn signifikante Doppelbilder, wenn er schielt, ebenso bei einer dekompensierenden Esophorie. Ein zirkadianes Schielen - auch "alternate day squint" genannt, würde ich auch ausschliessen. Hierbei wäre an den Tagen, an denen Ihr Sohn nicht schielt, keinerlei latenten Komponente nachweisbar. Um dies zu verifizieren, sollte Ihr Sohn also auch einmal unbedingt spontan an einem Tag untersucht werden, an dem er "nicht" schielt. Ich würde vermuten, dass auch dann ein deutlich grösserer Schielwinkel mit den geeigneten Methoden provozierbar ist, was den "alternate day squint" ausschliessen würde.
Die Tatsache, dass Ihr Sohn alternieren kann, d. h. einmal mit dem rechten, dann mit dem linken Auge schielt, ist von großem Vorteil, denn es untermauert, dass offenbar keines der beiden Augen von einer sonst üblichen signifikanten Sehschwäche, einer sog. Amblyopie, betroffen ist. Bei einem Mikrostrabismus ist dies zwar ungewöhnlich, aber nicht unmöglich. Das Schielen selbst ist deshalb nicht "schlimmer" und die Behandlung wird auch nicht schwieriger.
2. Therapie: Alle o. g. Möglichkeiten einer Schielform haben eines gemeinsam: eine Schiel-OP ist ab einem bestimmten Ausmaß unbedingt angezeigt, selbst beim "alternate day squint". Einzig der geeignete Zeitpunkt mag variieren. Bei einem normosensorischen Spätschielen zum Beispiel müsste innerhalb einiger Wochen nach Krankheitsbeginn eine OP erfolgen, da das Risiko beträchtlich ist, das beidäugige Sehen zu verlieren. Unter diesem Aspekt also würde ich prinzipiell eine OP ganz konkret ins Auge fassen und auch diagnostisch darauf hinarbeiten. Das würde bedeuten, dass man mit unterschiedlichen Mitteln versucht, den größmöglichen Schielwinkel zu provozieren, bspw. mit Prismen oder auch einem Verschluß des überwiegend schielenden Auges mit einem Pflaster über mehrere Tage (nennt sich "Marlow-Verband"). Das mag vielleicht etwas verwirrend klingen, ist aber notwendig, um eine sichere Indikation für eine Schiel-OP zu erlangen und eine bestmögliche Dosierung vorzunehmen, damit man nicht zuviel oder zuwenig Muskelstrecke operiert. Sie wüssten somit genau, wo Sie stehen, und hätten darüber Sicherheit, dass sich nicht ständig die Dinge und Pläne wieder ändern. Meines Erachtens ist der Umstand, dass der vorhandene Mikrostrabismus offenbar relativ häufig dekompensiert, eine ausreichende Indikation für eine Schiel-OP. Diese würde den primären kleinen Schielwinkel nicht beseitigen - der bleibt ein Leben lang - jedoch die sich dahinter verbergende latente Komponente, die das ohnehin wackelige beidäugiges Sehen Ihres Sohnes immer wieder unterbricht und möglichweise auf Dauer zerstört. Dies wäre der Grund, warum ich bei den hier vorliegenden Informationen zu einer OP tendieren würde. Der Zeitpunkt wäre im Vorschulalter zudem günstig. Später, wenn Ihr Sohn bereits in die Schule geht, wäre eine solche Behandlung mit deutlich mehr Problemen behaftet was Akzeptanz, aber auch eine positive Prognose angeht. Letztlich hängt die Frage pro oder contra Schiel-OP aber in erster Linie von Ausmaß und Stabilität des Schielwinkels und der Beeinträchtigung des beidäugigen Sehens ab.
Ob das Absetzen der Okklusionsbehandlung sinnvoll ist, kann ich von hier nicht beurteilen. Liegt sicher beidseits eine sog. zentrale Fixation vor und ist vor allem die Sehschärfe rechts und links definitiv gleich gut, dann kann man dies vertreten, wenn man engmaschige Kontrollen durchführt (alle 8 Wochen). Ansonsten würde ich je nach Befund weiterhin okkludieren, schon aus prophylaktischen Gründen. Im Übrigen ist es nicht so ungewöhnlich, wenn sich unter einer intensiven Okklusionsbehandlung ein Schielwinkel vergrößert. Beim Okkludieren wird ja immer auch das beidäugige Sehen unterbrochen, was eine ohnehin labile Situation noch weiter destabilisieren kann. Man nimmt dies jedoch billigend in Kauf, weil die Behandlung oder Vorbeugung einer Amblyopie unbedingten Vorrang hat.
Noch etwas: auch wenn SIe glauben, Ihr Sohn schiele zu bestimmten Zeiten nicht, ist dies nicht richtig. Selbst für Fachleute ist es schwer, einen Mikrostrabismus von ½ oder 1° ohne diagnostische Hilfsmittel sicher auszumachen. Sollte sich meine Vermutung bestätigen, dann schielt Ihr Sohn dauerhaft und manifest, auch wenn man es nicht offensichtlich erkennt. Das, was man manchmal verniedlichend als "Silberblick" bezeichnet, ist auch nichts anderes, als ein Mikrostrabismus.
Die Korrektur einer Fehlsichtigkeit, insbesondere einer Weitsichtigkeit, mit Brille ist Bestandteil der Schielbehandlung, beseitigt dieses aber nur in den wenigsten Fällen und bei bestimmten Krankheitsbildern. Gleichwohl hat eine nicht korrigierte Weitsichtigkeit einen mehr oder weniger ausgeprägten Einfluß auf ein Schielen. Deshalb ist das Tragen einer Brille in der Regel notwendig, auch wenn sich am Schielen selbst nichts oder nicht besonders viel ändert. Soll heissen: es ist in Ordnung, wenn Ihr Sohn die Brille trägt, und er sollte das auch weiterhin tun (obwohl die Werte nicht sehr hoch sind). Der Schielwinkel kann sich darunter verhalten, wie er will.
Ohne Ihrer Orthoptistin misstrauen zu wollen, würde ich in solchen Fällen immer eine zweite Meinung einholen, am Besten in einer Augenklinik, die einen Schwerpunkt auf der Behandlung von Schielerkrankungen hat und vielleicht eine Oberärztin, die in der Lage ist, zufriedenstellende Auskunft über Krankheitsbild und einen möglichen Behandlungsplan abzugeben. Solche Spezialisten gibt es an den Universitäts-Augenkliniken in Giessen, Heidelberg, Berlin, Köln, Bonn, Hamburg, Kiel, Düsseldorf, Essen, Erlangen, Münster, Freiburg, Leipzig, München und noch einigen anderen Städten. Eine Vorstellung hier würde sich m. E. sicherlich lohnen, auch wenn vielleicht der Anreiseaufwand etwas höher ist, als beim Augenarzt und der Augenklinik um die Ecke.
Viel Erfolg weiterhin!