Re: Melperon bei Demenz
Hallo Flieder,
Dr. Spruth hat es deutlich gesagt: "Explizit zugelassen für die Behandlung von demenzassoziierten Verhaltensstörungen ist aber lediglich Risperidon, was meistens auch die geringste Nebenwirkungen aufweist.".
Das heißt für mich, daß alle anderen Neuroleptika nicht wirklich zu empfehlen sind, weil sie im Grunde nicht in der Weise antipsychotisch wirken, wie es bei dem Krankheitsbild erforderlich wäre, oder die Nebenwirkungen sind zu schwerwiegend, um den Einsatz zu rechtfertigen. So ähnlich hat es mir auch schon einmal ein Neurologe erklärt.
Ich habe zuhause eine Mutter im Stadium der "mittleren Demenz", wie es von den Ärzten diagnostiziert wurde. Mittlerweile habe ich für sie die gesetzliche Betreuung übernommen. Ich pflege sie seit 2,5 Jahren zuhause und bin berufstätig. Die meisten Pflegekräfte und Ärzte haben mir bislang gesagt, sie gehöre eigentlich ins Heim. Sie kann nicht mehr mit Geld umgehen, nicht für sich kochen oder sich an-/ausziehen oder Körperpflege betreiben. Manche Haushaltstätigkeiten bekommt sie noch zustande, wie Abwaschen. Sie halluziniert sehr stark, sieht Personen, die nicht vorhanden sind, hört manchmal Stimmen. Behauptet immer wieder, daß man sie bestiehlt, daß man sie aus der Wohnung verdrängen will. Will immer wieder mal nach Hause, obwohl sie zuhause ist. Kann aggressiv werden, um sich schlagen. Die ganze Palette. Aber das alles kann man bis zu einem gewissen Grad eindämmen. Durch viel Ruhe. Durch ein harmonische Umfeld. Durch Eingehen auf Bedürfnisse. Durch Spaziergänge und gesunde Ernährung, ausreichendes Trinken, geregelte Verdauung, Kaffee nur in Maßen, usw. Durch eine geeignete Schmerztherapie. Durch Vermeiden von Aufregung. Ich habe auch schon einige Male nachts eingegriffen, weil meine Mutter, durch einen ALptraum aufgeschreckt, nachts durch die Wohnung lief und meinte, die Russen würden einmarschieren.
Ich habe es selbst erlebt. Ich weiß also durchaus, wovon ich rede. Und ich verzichte dennoch ganz bewußt auf Medikamente.
Probleme treten meist mit fremden, ungewohnten Situationen und Personen auf. Das bedeutet: Den alten Menschen möglichst in vertrauter Umgebung haben. Krankenhausaufenthalte meiden, wo irgend möglich. Wenn beispielsweise ein Pflegedienst oder Besuchsdienst kommen soll, müssen die Leute nach und nach vorsichtig an den Erkrankten herangeführt werden, um eine Vertrauensverhältnis zu schaffen, usw.
Und trotz aller - auch psychosozialer - Bemühungen werden wir es nicht verhindern, daß die Krankheit voranschreitet und es schlimmer wird. Es gibt keine kausale Therapie bei dieser Erkrankung. Das wissen wir alle.
Wobei ich mir immer wieder die Frage stelle, ob es sich bei einer Demenz tatsächlich um eine organische Erkrankung handelt oder ob es psychische Störungen sind, die sich in einer organischen Veränderung des Gehirns manifestieren? Soweit ich weiß, sind sich die Forscher diesbezüglich noch nicht hundertprozentig im Klaren.
Es liegt mir fern, Pfleger oder Angehörige zu verhöhnen - schon deshalb, weil ich mittendrin bin in der pflegerischen Situation. Ich weiß, daß wir alle mit schlimmen Problemen zu kämpfen haben. Die Frage ist nur, wenn man schon Medikamente einsetzt:
Hat man zuvor wirklich alle anderen Mittel ausgeschöpft oder greift man zur Tablette, weil es die einfache Lösung zu sein scheint?
Welchen Preis bezahlt der alte Mensch für die Beruhigungspille in Form von Nebenwirkungen?
Kann man sich wirklich sicher sein, daß ein Neuroleptikum die Halluzinationen und Ängste wirklich wegnimmt oder nimmt sie dem Menschen lediglich die Fähigkeit, seine Ängste und Emotionen zu entäußern? Oftmals haben diese Mittel sogar die paradoxe Nebenwirkung, daß sie Wahn und Halluzinationen erst erzeugen. Was meine Mutter angeht, sie hatte unter der Kombination Eunerpan/Risperdal auch noch nach 6-wöchiger Einnahme weiterhin Halluzinationen, sah in einer Nachttischlampe eine brennende Flamme, die ihr Angst machte, oder bemerkte in Panik, daß Kolonnen von Insekten über ihre Bettdecke krabbeln. Insofern vermute ich mal, daß die Wirkungsweise nicht für alle Menschen gleich ist und teilweise gegen Null tendiert. Und wenn ich das sehe und gleichzeitig bemerke, daß der Betreffende unter den Nebenwirkungen mehr zu leiden hat als daß das Präparat ihm nützt, dann muß ich die Konsequenzen ziehen.
Ich kriege immer wieder mal eine Ohrfeige verpaßt oder werde von meiner Mutter beschimpft und beleidigt. Ich habe gelernt, das wegzustecken. Diese Krankheit ist kein Spaziergang, sondern eine Herausforderung für alle Beteiligten. Die meiste Zeit ist sie jedoch friedlich. Wenn man, wie gesagt, für ein entsprechendes Umfeld sorgt.
Ich weiß, daß es Extremfälle gibt, bei denen körperlich kräftige, demente Menschen regelrechte Tobsuchtsanfälle bekommen, wobei sie sich selbst und andere gefährden. Das sind akute Notsituationen, die sicherlich den Einsatz eines Neuroleptikums rechtfertigen. Aber auch nur kurzfristig und nicht als Dauermedikation.
Worauf sich meine Kritik immer wieder bezieht, ist meine Erfahrung, daß zu schnell zu diesen Mitteln gegriffen und oftmals die Medikation auch nicht mehr hinterfragt wird. In allen Lehrbüchern steht drin, daß diese Mittel nur temporär gegeben werden und baldmöglichst ein Ausschleichversuch unternommen werden sollte. Ich habe es leider eher so erfahren, daß man aus praktischen Erwägungen heraus - meist in Heimen - die Medikation als Dauerlösung bestehen läßt.
Leider Gottes bekommen dort auch nichtdemente Bewohner oftmals Neuroleptika oder Benzodiazepine als Schlafmittel verabreicht, damit Ruhe auf der Station ist. Das ist kein Märchen. Sicherlich nicht in jedem Heim, aber in vielen. Denn auch nichtdemente alte Menschen, die vielleicht gegen ihren Willen ins Heim gebracht wurden, sind aufgeregt und geistern nachts herum, weil sie ihr Zuhause vermissen. Und wenn dann niemand da ist, der sich besonders mit ihnen beschäftigt, ein Vertrauensverhältnis aufbaut, Gespräche führt, dann bilden sich "Verhaltensstörungen" heraus, die ganz schnell medikamentös behandelt werden. Dann wird eine Demenz sozusagen künstlich erzeugt. Traurig ist das. Deswegen sollte kein Angehöriger glauben, er könne seine Eltern ins Heim bringen und müsse sich dann nicht mehr darum kümmern, weil das ja Profis übernehmen. Das ist ein Irrtum. Die Pflegekräfte sind hoffnungslos überfordert. Die schaffen ja kaum die Satt-Saube-Pflege. Psychosoziale Betreuung ist eine "Kaviarleistung". Deshalb müssen Angehörige auch in den Heimen in die Pflicht genommen werden, sich um ihre Eltern/Partner regelmäßig zu kümmern und all jene Tätigkeiten zu übernehmen, die die Pflegekräfte nicht schaffen. Sicher wird sich so mancher fragen, warum er 3.000 Euro und mehr im Monat bezahlen soll, wenn er dann trotzdem noch selbst intensiv eingreifen muß? Nun, dieses Problem ist unserem Gesundheits- und Pflegesystem geschuldet und die Pflegekräfte sind hier gleichermaßen die Opfer wie die Heimbewohner selbst.
Übrigens - die Hausärztin meiner Mutter hatte selbst einen Fall von Demenz in der Familie. Sie selbst hat mir gesagt, daß sie verschiedenste Präparate ausprobiert und letzlich alles abgesetzt hat, weil ihr Eindruck war, daß kein Nutzen für eine Besserung der Demenz oder der sogenannten "Verhaltensstörungen" erkennbar war.
Nichts für ungut. Ich wollte hier nichts verharmlosen. Mir geht es um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Diese antipsychotischen Substanzen sind keine harmlosen Mittelchen, sondern durchaus gefährlich. Und in Anbetracht dessen wird mir generell zu leichtsinnig damit umgegangen.
Viele Grüße,
Petra H.