RE: ich fühle nixxx
Hallo Barbie,
ich habe eine vielleicht tröstliche Geschichte bei Nerve gefunden, die sicher nicht deine Probleme lösen wird, aber dich vielleicht doch etwas "beruhigt" und dich manche Dinge vielleicht anders sehen lässt. Wenn du du bei der Selbstbefriedigung Erregung verspürst und sogar einen Orgasmus bekommst, dann hast du doch schon eine kleine Insel der Lust! Jetzt kommt mit der Zeit die "Landgewinnung"....aber lies selbst und sei neugierig ,geduldig und erwarte nicht , dass immer alles gleich klappen muss...
Liebe Grüße Mathias
Leib und Seele
In der Grundschule wusste ich sehr genau, wie ich meinen Spaß haben konnte, aber ich hatte keine Ahnung, worin genau dieser Spaß bestand. In den Pausen pflegten die Mädchen aus meiner Klasse auf dem Pausenhof abwechselnd über einen großen roten, metallenen Poller zu hüpfen. Ich hatte mir angewöhnt, obendrauf zu springen, links und rechts die Beine baumeln zu lassen und so lange hin und her zu ruckeln, bis ich ein Kitzeln im Bauch verspürte und das Gefühl hatte, ich müsse pinkeln. In dem Alter kannte ich die Worte Orgasmus und Masturbation und ihre Bedeutung noch nicht, und als Judy Blume sie mir beibrachte, sträubte ich mich dagegen, sie auf das anzuwenden, was mir zur lieben Gewohnheit geworden war. Genauso, wie ich davon überzeugt war, dass in der siebten Klasse kein anderes Mädchen außer mir seine Tage hatte, glaubte ich auch, dass niemand außer mir sich selbst befriedigte.
Und so kam ich gar nicht auf die Idee, mir das, was ich auf dem Spielplatz gelernt hatte, beim Fummeln mit meinem ersten High-School-Freund zunutze zu machen. Schließlich waren die Orgasmen, die ich im Selbstversuch herbeiführte (wobei ich allerdings nicht genau wusste, ob es überhaupt welche waren), etwas Perverses, Beschämendes und nichts, was man vor den Augen eines Jungen praktizieren sollte. Leider hatte ich mit vierzehn noch einen höchst unterentwickelten Geschlechtstrieb, daher beschränkte ich mich auf das, was der Junge meiner Meinung nach von mir erwartete: Ich räkelte mich lasziv auf dem Bett, pustete ihm heiße Luft ins Ohr und ließ mich von ihm abschlabbern, bis mein Gesicht ganz rau und schuppig war.
Einmal tat er etwas Unvorhergesehenes: Er steckte seinen Kopf zwischen meine Beine und stocherte so ziellos und desorientiert mit seiner Zunge da unten herum wie ein Wünschelrutengänger. Ich war total perplex, lag wie erstarrt auf dem blauen Flokati und wusste nicht recht, wie ich reagieren sollte. Nach ungefähr fünf Minuten begann es in meinen Schneidezähnen zu kribbeln, als wären sie eingeschlafen. Unterhalb meines Nabels spürte ich überhaupt nichts, aber in meinem Gebiss ging die Post ab. Anschließend lief ich nach Hause und bombardierte meine älteste Schwester mit Fragen - gibt es so etwas wie einen dentalen Orgasmus? Ganz große Schwester, drückte sie mir das Buch Gelöst im Orgasmus - Entwicklung des sexuellen Selbst-Bewusstseins für Frauen in die Hand, doch darin fand ich keinen Hinweis auf ein derartiges Phänomen.
Auf der High-School und am College lernte ich endlich, beim Cunnilingus zum Höhepunkt zu kommen, auch wenn ich mich dazu stundenlang derart angestrengt konzentrieren musste, dass ich mir fast die Augäpfel zerquetschte. Doch beim Geschlechtsakt selbst war ich trotz aller Bemühungen nach wie vor wie gelähmt. Ich war mir sicher, dass alle meine Freundinnen und selbst meine Mutter beim Sex mühelos zum Höhepunkt kamen. Meine Vagina hingegen schien, so sehr ich mich auch krümmte und wand, so taub und empfindungslos zu sein wie ein Schwamm.
Wenn man sich meinen Fall so ansieht, war ich eigentlich ein Schulbeispiel für das, was man heute unter dem Begriff "sexuelle Funktionsstörungen bei der Frau" zusammenfasst. Im Zuge des Viagra-Booms haben sich zahlreiche Mediziner bemüßigt gefühlt, diese weibliche Version der Erektionsstörung zu untersuchen, und mit Begeisterung Symptome wie Anorgasmie, mangelnde Libido und Schmerzen beim Verkehr diagnostiziert.
Die beiden ersteren haben mir jahrelang das Leben schwer gemacht. Doch offensichtlich bin ich damit nicht allein. Einer Studie zufolge, die im Journal of the American Medical Association veröffentlicht wurde, haben über vierzig Prozent aller Frauen "sexuelle Probleme". Die meisten dieser Frauen sind zwischen achtzehn und achtunddreißig Jahre alt - wohingegen der Großteil der unter Erektionsstörungen leidenden Männer zwischen fünfzig und neunundfünfzig ist. Im Oktober sind in Boston über fünfhundert Ärzte zu einem Symposion zusammengekommen, um über diese neue Modekrankheit zu diskutieren. Vorsitzender des Kongresses war der Bostoner Urologie-Professor Dr. Irwin Goldstein, ein Experte für "weibliche Sexstörungen". (Äh … seit wann sind Urologen Spezialisten für weibliche Genitalien?) Wie nicht anders zu erwarten, konzentrierten sich Goldstein und Konsorten auf die physiologischen Ursachen sexueller Dysfunktionen - körperliche Defekte wie Hormonstörungen oder Kreislaufprobleme. Als Therapie empfahlen sie eine Fülle von Hilfsmitteln und Medikamenten, darunter Testosteron (zur Steigerung der Libido), Viagra (zur besseren Durchblutung der Genitalien), hyperämisierende Cremes und Klitorispumpen. Fast die Hälfte aller Frauen, behaupten sie, leide an einer körperlichen Funktionsstörung, die eine medikamentöse Behandlung erfordere - eine düstere Diagnose, mit der es sich die Mediziner meiner Meinung nach ein bisschen zu leicht machen, wie damals in den Sechzigern, als unzähligen depressiven Hausfrauen ohne Sinn und Verstand Valium verschrieben wurde.
Dieser "Der Onkel Doktor macht das schon"-Ansatz findet nicht bei allen Medizinern Zustimmung. Zusammen mit einigen Kollegen hat die berühmte Psychologin Leonore Tiefer als Reaktion darauf den Artikel "A New View of Women's Sexual Problems" veröffentlicht, in dem sie fordert, dass Ärzte bei der Diagnose von sexuellen Problemen bei Frauen auch soziale, ökonomische und kulturelle Faktoren in Betracht ziehen. Sie weist darauf hin, dass Experten für Sexstörungen großzügige finanzielle Unterstützung von Pharmakonzernen wie Pfizer, dem Hersteller von Viagra, erhalten. Tiefer bezweifelt nicht, dass manche Frauen tatsächlich medizinische Probleme haben - viele aber, so ihre These, haben keine, und weibliche Sexualität bloß als einen selbsttätigen Mechanismus mit einer gewissen Störanfälligkeit zu begreifen, ist eine gefährliche Sackgasse.
Tiefer denkt da offensichtlich ganzheitlicher: Unsere Sexualität hängt von vielen Einflüssen ab; und Leib und Seele kann man nicht voneinander trennen. (So kann man wohl davon ausgehen, dass eine Frau, die schon in jungen Jahren als "sexuell gestört" abgestempelt wird, mit größter Wahrscheinlichkeit einen psychischen Knacks davonträgt.) Auch soziokulturelle Aspekte sollten nicht außer Acht gelassen werden. Vielleicht leidet eine Frau mit schwach ausgeprägter Libido einfach an Depressionen. Vielleicht ist sie zu prüde erzogen worden. Möglicherweise ist sie in einer ultrareligiösen Familie aufgewachsen, in der sexuelle Lust etwas Alarmierendes war. Möglicherweise ist sie eine verkappte Lesbe. In solchen Fällen macht Tiefers Ansatz mehr Sinn als ein Viagra-Rezept und ein beschwichtigendes Schulterklopfen.
Und auch wenn jemand sehr aufgeklärt ist, kann es passieren, dass für ihn (oder sie) die Sexualität ein Buch mit sieben Siegeln bleibt - einfach wegen ihrer inhärenten Rätselhaftigkeit. Ich bin die Tochter eines Arztes und einer Feministin der zweiten Generation, und ich habe zwei ältere Schwestern, die schon sehr früh äußerst freimütig mit mir über Themen wie Sex, Verhütung und Abtreibung sprachen. Ich las gleichzeitig Kinderbücher und Unser Körper, unser Leben. Doch trotz dieser ganzen sexbejahenden feministischen Indoktrination steckte ich jahrelang im Sumpf sexueller Frustration. Ich kannte sämtliche Tanzschritte, aber ich hatte überhaupt kein Rhythmusgefühl.
Und dennoch würde ich diese frühen erotischen Fehlversuche ganz bestimmt nicht als "Sexstörung" bezeichnen. In meiner Situation waren sie vollkommen normal - sie waren das Resultat einer Mischung aus Jugend, Unerfahrenheit, Sexismus und Ungewissheit. Ich brauchte Zeit, um meine eigene Unbeholfenheit - ganz zu schweigen von der meines Partners - zu akzeptieren und zu lernen, mich wohl in meiner Haut zu fühlen. Ich brauchte Zeit, um meine Schüchternheit zu überwinden, die mich davon abhielt, meinen Liebhabern zu sagen, was sie richtig und was sie falsch machten. Wenn ich mir überlege, wie verhältnismäßig jung die Frauen sind, denen sexuelle Störungen attestiert werden, wird mir klar, dass manche von ihnen wahrscheinlich noch mitten in diesem Lernprozess drinstecken. Den macht jeder durch, Männer wie Frauen - und für die meisten von uns ist er irgendwann abgeschlossen. Mir scheint, dass das Tribunal der Ärzte und Therapeuten, die über sexuelle Störungen von Frauen urteilen, vollkommen übersieht, dass ein großer Teil der Sexualität aus Ungeschicklichkeiten, Dummheiten und Irrtümern besteht.
Und es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb ich meine sexuellen Fehlschläge nicht als Symptome einer "Störung" verstehen möchte: Ohne diese Unbeholfenheit wäre Sex nur halb so schön. Nehmen wir zum Beispiel meine Entjungferung: Mein Freund und ich rackerten uns zu den lustfeindlichen Klängen von Grateful Dead auf seinem Bett ab. Er drang für eine Nanosekunde in mich ein, woraufhin wir überzeugt waren, dass er mich geschwängert hatte (obwohl keiner von uns zum Höhepunkt gekommen war). Diese unerschütterliche Naivität und Unbedarftheit und nicht etwa ein toller Orgasmus und ein reibungsloses Funktionieren machten mein erstes Mal zu einem denkwürdigen Ereignis. Es war nicht vollkommen, aber sollte Sex nicht die eine Sache in unserem Leben sein, die nicht von dem Streben nach Perfektion beherrscht ist? Einen Alleskönner findet doch niemand sympathisch. Warum sollte einem im Bett irgend etwas peinlich sein? Ich bedauere die erotischen Debakel meiner Vergangenheit nicht, sondern amüsiere mich über sie. Sie sind keine Symptome für eine Störung, sondern bloß Momente, die mein Leben menschlicher, echter und um so lebenswerter machen.
©2000 Jessica Baumgardner und Nerve.com, Inc.