Lageanomalien der Hoden
Lageanomalien der Hoden
Lageanomalien der Hoden
Pathophysiologie und Klassifizierung
In der frühen Embryonalentwicklung, etwa bis zum Ende des ersten Trimenons, haben sich die Hoden bereits aus dem Bereich der Nierenanlagen in die Nähe des inneren Leistenringes verlagert. Die Testes wandern normalerweise während der letzten zwei Schwangerschaftsmonate aus einer Position nahe des inneren Leistenrings in das Skrotum. Zum Zeitpunkt der Geburt ist der Deszensus der Testes meist abgeschlossen und gehört zu den Reifekriterien des Neugeborenen. Der Deszensus kann jedoch an verschiedenen Positionen zum Stillstand kommen. Je nach der Lage der Hoden bei nicht abgeschlossenem Deszensus unterscheidet man folgende Anomalien:
1. Kryptorchismus: Der Hoden liegt oberhalb des Inguinalkanals, intraabdominal oder retrpoperotoneal und ist weder tastbar noch sichtbar.
2. Leistenhoden: Der Hoden liegt fixiert im Inguinalkanal.
3. Gleithoden: Der Hoden liegt mobil am Ausgang des Inguinalkanals und kann temporär in das Skrotum herabgedrückt werden., rutscht jedoch beim Loslassen wieder in die ursprüngliche Lage zurück.
4. Pendelhoden: Der Hoden pendelt zwischen Skrotum und Leistenkanal spontan hin und her, z. B. durch den Kremasterreflex bei Kältereiz oder Koitus.
5. Hodenektopie: Der Hoden liegt ausserhalb des normalen Descensusweges, z. B. femoral oder inguinal.
Ein Pendelhoden ist relativ häufig, ihm kommt nur selten eine pathologische Bedeutung zu. Die übrigen Lageanomalien finden sich bei ca. 0,5% der erwachsenen Männer. Reife männliche Neugeborene weisen in 2 bis 3 % einen Hodenhochstand auf, ein Spontandeszensus erfolgt jedoch bei über 60 % dieser Kinder noch innerhalb der ersten drei Lebensmonate. Frühgeborene haben in bis zu 30 % der Fälle nicht deszendierte Hoden, jedoch wandern die Gonaden meist innerhalb von Monaten in das Skrotum. Einseitiger Hodenhochstand kommt etwa fünfmal häufiger vor als beidseitiger.
Die pathophysiologische Ursache der Lageanomalie ist in den meisten Fällen ungeklärt, bei ca. 85 % der Patienten besteht eine so genannte idiopathische Deszensusstörung. Vermutlich liegen multifaktorielle Störungen zugrunde. Da der nicht vollständig deszendierte Hoden in den meisten Fällen den inneren Leistenring passiert hat, werden Störungen der inguinoskrotalen Wanderung vermutet, in die zusätzlich zu endokrinen Störungen Defekte der Neurotransmittersekretion bei gestörter Ausreifung des N. genitofemoralis involviert sind (Hutson et al. i997).
Eine Lageanomalie findet sich gehäuft bei Patienten mit hypothalamisch-hypophysären Störungen oder Störungen der Testosteronsynthese oder -wirkung. Neben endokrinen Ursachen konnten auch anatomische Defekte, die über eine Hypotonie der Bauchwand zu erniedrigtem intraabdominellem Druck führen (z. B. Prune-Belly-Syndrom, Blasenexstrophie, Omphalozele, Gastroschisis), als Ursachen einer Lageanomalie identifiziert werden. Deszensusstörungen kommen auch häufig bei primären Anlagestörungen der Hoden vor, wie z. B. beim Klinefelter-Syndrom, Noonan-Syndrom und bei bestimmten Formen der Gonadendysgenesie.
Infertilität und Malignomrisiko
Die abnorme Lage der Hoden ist mit einer Schädigung des Keimepithels verbunden. Viele Männer mit Lageanomalien der Hoden weisen selbst bei einseitiger Deszensusstörung Einschränkungen der Fertilität auf. So ist der Prozentsatz der Patienten mit bestehender oder behandelter Lageanomalie in der Praxis mit 8 % deutlich höher als die durchschnittliche Prävalenz von 0,5 %. Die zu der Fertilitätsminderung führenden Veränderungen treten schon sehr früh auf, und nicht, wie früher geglaubt wurde, erst zur Zeit der Pubertät. Schon in den ersten Lebensjahren lassen sich histologische Veränderungen feststellen. So ist die Reifung der Gonozyten zu A-Spermatogonien als erster Schritt der postnatalen Spermatogenese gestört (Huff et al. 1991). Je länger die Lageanomalie besteht, desto ausgeprägter sind die morphologischen Veränderungen. Bei 163 biopsierten Patienten unserer Fertilitätssprechstunde, die in der Vorgeschichte einen Maldeszensus testis aufwiesen,
zeigten sich in 28 % der Fälle qualitative und quantitative Einschränkungen in der Hodenhistologie im Sinne einer moderaten Hypospermatogenese und in zwei Dritteln der Befunde mit einem Sertoli-cell-only-Syndrom oder einem Arrest der Spermatogenese. Bei 9 Patienten wurde die Diagnose eines Carcinoma in situ bzw. eines Seminoms gestellt. Die endokrine Hodenfunktion wird in aller Regel durch Lageanomalien der Testes nicht beeinträchtigt.
Zusätzlich zur Einschränkung der Fertilität besteht bei Patienten mit Lageanomalie der Hoden ein erhöhtes Risiko für Hodentumoren. Auch durch eine Orchidopexie sekundär in das Skrotum gebrachte Testes haben ein deutlich erhöhtes Malignomrisiko, sind aber der klinischen Überwachung besser zugänglich. Bei 2,8% von 599 Männern mit nicht deszendierten Hoden wurden Hodentumoren oder Carcinomata in situ bei einem oder beiden Testes histologisch gesichert (Giwercman et al. 1993). Das Risiko, einen Hodentumor zu entwickeln, ist bei Männern mit Maldeszensus testis 4 bis 5mal höher als in der Normalbevölkerung. Es muss demnach davon ausgegangen werden, dass kongenitale intrinsische Faktoren das Malignitäts- und Fertilitätspotential des kryptorchen und des kontralateralen Testis mitbeeinflussen. Erfolgreiche Behandlung vor dem 10. Lebensjahr reduziert das Risiko der Entartung (Forman u. Moller 1994).
Diagnose
Bei der Palpation sollte der Patient im Stehen und Liegen untersucht werden. Kältereiz und Aufregung sind zu vermeiden, da sie zur Auslösung des Kremasterreflexes und somit zu einer Retraktion des Hodens führen können. Eventuell ist die Untersuchung auch nach einem warmen Bad durchzuführen. Die Hodengröße sollte festgehalten werden. Die bildgebende Sonographie kann besonders bei hoher Lageanomalie die Diagnosestellung erleichtern. Bei beidseitigem Kryptorchismus liefert der hCG-Test die Differentialdiagnose zur Anorchie. Wenn bei Anstieg des Testosterons Verdacht auf vorhandenes Hodengewebe besteht, muss mit bildgebenden Verfahren (CT, MRT) nach dem/den Hoden gesucht werden.
Therapie
Lageanomalien der Hoden sollten einer möglichst frühzeitigen Behandlung zugeführt werden (DGE 1991). Erfolgt ein Spontandeszensus des Hodens nicht bis zum Ende des 1. Lebensjahres, wird mit 500 I. E, hCG i. m./Woche über einen Zeitraum von 5 Wochen therapiert. Die Dosis beträgt ab dem 2. Lebensjahr 1.000 I. E. hCG/Woche und ab dem 6. Lebensjahr 2.000 IE hCG/Woche. Alternativ zur hCG-Therapie kann GnRH (3 mal täglich jeweils ein Sprühstoß von 200µg in jedes Nasenloch, insgesamt 1,2 mg/Tag) über 4 Wochen eingesetzt werden. Die nasale GnRH-Therapie ist für den Patienten angenehmer, setzt aber eine gute Compliance, insbesondere auch der Eltern, voraus. Unter der Therapie mit hCG oder GnRH kann es zu Erektionen, zum Erscheinen von Pubeshaaren, zu gesteigerter Aggressivität und zu Hodenvergrößerungen kommen. Nach Ende der Therapie sind diese testosteronbedingten Nebenwirkungen reversibel.
Die Erfolgsquote der hCG-Therapie wird mit 20 bis 50 %, die der GnRH-Therapie mit 0 bis 78 % kontrovers diskutiert.
Eine sequentielle Kombination beider Therapieformen ist möglich. Eine zusätzliche Verabreichung von FSH führt nicht zu besseren Therapieergebnissen (Hoorweg-Nijman et al. 1994), womit die Rolle der Androgene als vorwiegender Deszensus-Faktor unterstrichen wird. Der Erfolg der hormonellen Therapie ist um so größer, je tiefer der Hoden bei Therapiebeginn lokalisiert und je jünger der Patient ist <oder> 4 Jahre (Pyörälä et al. 1995). Eine bei Ratten beobachtete Schädigung der Testes durch hCG erfolgt beim Menschen nicht (Kaleva et al. 1996).
Wenn bei Kindern medikamentös ein Deszensus nicht erreicht werden kann, ist die operative Korrektur durch Orchidopexie indiziert. Besteht zusätzlich zur Lageanomalie eine Leistenhernie oder liegt eine Hodenektopie vor, wird die Deszensusstörung primär operativ korrigiert. Ein günstiger Einfluss auf die Ejakulatparameter der später erwachsenen Patienten wurde nach Orchidopexie mit anschließender GnRH-Analog-Behandlung beschrieben (Hadziselimovic u. Herzog 1997). Bei intraabdominal gelegenen Hoden kann eine Autotransplantation ins Skrotum vorgenommen werden (Bukowski et al. 1995). Diese Operation ist vor allem bei beidseitigem Kryptorchismus indiziert und sollte möglichst im frühen Kindesalter vorgenommen werden. Es wurden aber auch Erfolge bei jugendlichen und jungen Erwachsenen berichtet. Erfolg bedeutet hier Lagekorrektur und Erhalt der endokrinen Funktion, Fertilität wird kaum erzielt.
Beim Erwachsenen ist eine Therapie mit GnRH oder hCG erfolglos. Wird eine Operation nicht durchgeführt, sind regelmäßige Kontrollen (halbjährlich) auf Veränderungen im Sinne einer Tumorentstehung notwendig. Einen entscheidenden Stellenwert hat hierbei die bildgebende Sonographie. Auch behandelte maldeszendierte Hoden sollten aufgrund der höheren Inzidenz maligner Entartung regelmäßig palpiert und ultrasonographisch untersucht und der Patient zur regelmäßigen Selbstuntersuchung angehalten werden.
Die frühzeitige Therapie des Hodenhochstands basiert auf der Erkenntnis, dass morphologische Veränderungen der Hoden schon in den ersten Lebensjahren erfassbar sind. Die früher praktizierte Behandlung während oder kurz vor der Pubertät hat dauerhafte Schäden nicht vermeiden können. Durch die früh einsetzende Behandlung hofft man, die Häufigkeit von Fertilitätsstörungen und Malignomentstehung entscheidend zu vermindern. Es ist bislang jedoch nicht gesichert, dass die frühe Behandlung tatsächlich zu einer Verbesserung der Fertilität bei Patienten mit Hodenhochstand führt (Lee 1993). Erst umfassendere Nachuntersuchungen bei Patienten, die nach den neuen Therapieschemata behandelt wurden und das fortpflanzungsfähige Alter erreicht haben, werden zur Klärung dieser Frage beitragen können. Bei bestehenden Fertilitätsstörungen im Erwachsenenalter gibt es gegenwärtig keine rationalen Therapieansätze; als symptomatische Therapie kommen die Verfahren der assistierten Fertilisation in Frage.