RE: Feinmotorik
Liebe Rochelle,
ich kann Dein Problem sehr gut nachvollziehen. Ergotherapie ist das Allerbeste, was Du Deinem Sohn tun kannst. Und lass Dir von der Ergotherapie vielleicht einen Sport empfehlen, der für den Kleinen geeignet ist.
Mein Sohn bekam mehr als 4 Jahre Ergotherapie und es sah ursprünglich aus, als würde er nie eine Regelschule besuchen können. Nicht weil er es vom geistigen Zustand her nicht schaffen könnte, sondern einfach wegen seiner taktilen Fähigkeiten. Mittlerweile ist Tobi fast 13, wird zum Schuljahreswechsel von der Hauptschule auf die Realschule wechseln. Natürlich ist seine Feinmotorik miserabel, aber mit seinem Mundwerk macht er alles wieder wett.
Angefangen hat alles ganz merkwürdig. Also ich hatte ja schon ein Kind und als Kinderkrankenschwester hatte ich ja auch viel mit Kindern zu tun, wenn ich zu dieser Zeit mich auch nur um die Kinder kümmerte. Tobi stürzte einfach ganz viel, er war aber ein unglaublich tapferes Kind. Er heulte nie nach einem "Unfall" . es sei denn, er wollte damit Aufmerksamkeit erregen. Einmal war er mit zweieinhalb Jahren auf ein Kinderstühlchen geklettert, runtergefallen, nix war. Ich guckte ein paar Minuten später genauer hin, hatte er auf dem Kopf eine 10cm lange Platzwunde. Also Samstag Abend mal wieder ab ins Krankenhaus. Ein tolles Gefühl, wenn man ins Krankenhaus kommt und die Ärzte und Schwestern einem sofort mit Namen ansprechen, weil man so bekannt ist. Jedenfalls spazierte er dort zu dem Doktor hin und sagte: Du Doktor, die Mama sagt, das ist kaputt, mach das doch wieder ganz, das ist doch blöd.
Eine Brille bekam er schon bevor er zwei war, das ist mir eher aufgefallen, weil in unserer Familie einfach alle Brillenträger sind. Irgendwann, er ging schon anfangs in den Kindergarten, fiel mir auf, dass er eigentlich konsequent nie malte. Ich sprach mit der Kindergärtnerin, der das nicht aufgefallen war, ihn daraufhin aber ausführlich beobachtete, also mein Kind malte wirklich nicht. So landeten wir das erste Mal beim Ergotherapeuten. Angesetzt waren drei Stunden zur Diagnosestellung, dann hatte ich einen Termin zur Besprechung.
Also mein Sohn hat keinerlei taktiles Empfinden. Er schaffte es nicht mal etwas zu greifen, wo er über Kreuz greifen mußte. Im Laufe der Zeit stellte sich dann heraus, dass er keinerlei Schmerzempfinden hat, nicht friert, nichts bis extrem wenig schmecken kann. Am Anfang dachte ich, das wäre das Ende. Aber, es gibt nichts, was man nicht schaffen kann. Tobi erlernte alles, was wir durch Erfahrung machen. Defizite die er nicht mit seinen Händen kompensieren kann, "diskutiert" er einfach weg. Alle sind begeistert von dem Kind, mit dem man so qualifiziert reden kann. Auf der Hauptschule ist er hoffnungslos unterfordert, aber das können wir jetzt in der 6.Klasse ändern.
Lehrer tun sich etwas schwer mit der Problematik, man sollte es den Lehrern aber trotzdem versuchen zu erklären. So schimpfte ihn die Lehrerin in der dritten Klasse aus, weil er im Kunstunterricht so unordentlich ausschnitt. Klar, versuch mal an einer Linie gerade auszuschneiden, wenn Du die Schere nur siehst und nicht spürst. Jedenfalls hat er zum Entsetzen der Lehrerin ganz gut reagiert(meiner Ansicht nach) und der Lehrerin vorgesungen, die Gedanken sind frei.
Ich erzähle Dir das hier so ausführlich, weil ich weiß, wie man sich mit einer solchen Diagnose fühlt. Man hat das Gefühl, nicht richtig auf sein Kind achtgegeben zu haben, hätte mir das nicht eher auffallen müssen? Die Ergotherapeutin hat damals zu mir gesagt, ich solle mir keine Vorwürfe machen, üblicherweise fallen solche Kinder erst auf, wenn sie schon in der Schule sind. Also ich mache mal eine Rechnung:
Ohne Ergotherapie wäre mein Kind heute in einer Sonderschule. Ein Kind mit einem IQ von nachweislich 133. Es gibt Defizite, wie das Schmerzempfinden, was nicht aufgeholt werden kann. Aber die Kinder lernen damit umzugehen. Sie vermissen ja nichts, weil sie es nicht anders kennen. Ursachen konnte mir kaum einer nennen. Ein Kinderarzt verstieg sich sogar dazu zu fragen, ob ich vielleicht Alkoholikerin wäre (so ein Blödsinn). Ein anderer bescheinigte uns MCD (minimale cerebrale Dysfunktion), da bin ich geflippt. Vor einem Jahr hatte ich auf einer Fortbildung Kontakt zu einem Schmerztherapeuten. Nach seinem Vortrag, es ging eigentlich um chronische Schmerzen, sprach ich ihn an. Er war eigentlich der erste, der mir eine plausible Erklärung liefern könnte. Es ist im Prinzip eine Fehlleitung im Rückenmark. Sozusagen ein umgekehrter Phantomschmerz.
Fazit: Kämpfe für Dein Kind, Du siehst an meinem, dass es weiter geht. Bei entsprechender Förderung hat Dein Kind trotzdem alle Möglichkeiten. Du wirst Dich wahrscheinlich lange mit Lehrern streiten müssen, aber setze Dich durch, Dein Kind hat es einfach verdient. Und ich wünsche Dir von Herzen, dass die Störung Deines Kindes vielleicht nicht so ausgeprägt ist, wie bei meinem.
Liebe Grüße und ganz viel Kraft
Beate