Re: Brille wirklich notwendig?
Guten Morgen, leider wimmelt es in den hier gemachten Äusserungen nur so von Missverständnissen und Ungenauigkeiten. Auch die Kommunikation mit Ihrer Augenärztin scheint alles andere als informativ und sachdienlich. Leider werden in dem Alter, in dem sich Ihr Sohn jetzt befindet, die meisten Fehler in der Schielbehandlung gemacht mit dem Ergebnis, dass ein früher und konsequenter Therapiebeginn unterbleibt und irreversible Schäden entstehen, die später nicht mehr korrigiert werden können.
Deshalb mein erster Rat: wenn Ihre Augenärztin keine Sehschule unterhält, in der eine Orthoptistin arbeitet, suchen Sie sich eine entsprechende Praxis, lassen Sie Ihren Sohn dort ausführlich untersuchen und besprechen dann mit den Spezialisten einen adäquaten Behandlungsplan, den Sie auch verstehen und durchführen. Es hat keinen Sinn Maßnahmen anzuordnen, die mangels Compliance und Akzeptanz auf Patientenseite nicht durchgeführt werden.
Nun einige Anmerkungen zu Ihrem "Problem".
1. Wenn ein krankhaftes Schielen vorhanden ist, spielt es erst einmal keine Rolle, ob es sich um ein "leichtes" oder "starkes" Schielen handelt! Es ist ein weit verbreiteter Irrtum zu glauben, ein kosmetisch unauffälliges Schielen sei weniger gefährlich, als ein sehr auffälliges. Alle Formen von manifestem Schielen können unbehandelt im schlechtesten Fall zu einer einseitigen Blindheit mit einer Sehschärfe von unter 2% auf dem schielenden Auge führen. Machen Sie sich bitte frei von der Illusion, ein "kleines" Schielen sei "nicht so schlimm". Das ist falsch.
2. Brille und Pflasterokklusion (Abkleben des gesunden, nicht schielenden Auges) sind beides Behandlungsmaßnahmen, die sich ergänzen - nicht ersetzen! Eine manifeste Schielerkrankung erfordert in der Regel immer (!) die Korrektur einer bestehenden Fehlsichtigkeit, mithin das Tragen einer Brille. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Höhe einer Weitsichtigkeit vielleicht "nur" den physiologischen Ausmaßen entspricht. Ein Okklusionsbehandlung ist immer dann notwendig, wenn das Schielen einseitig auftritt. Je früher eine Behandlung beginnt, desto besser sind die Aussichten auf einen Therapieerfolg. Das bedeutet umgekehrt, je später eine Behandlung einsetzt, desto schlechter sind die Aussichten auf Erfolg. Ihr Sohn ist in einem Alter, in dem man bereits alle medizinisch notwendigen Maßnahmen ergreifen kann. Ein Abwarten wäre fahrlässig und, wenn überhaupt, nur unter entsprechenden Voraussetzungen und strenger medizinischer Befundkontrolle angezeigt.
3. Die Gabe von Scopolamin, der Wirkstoff im Boro Scopol, scheint im vorliegenden Falle kaum sinnvoll. Zwar kann eine entsprechende Tropfenbehandlung über einen längeren Zeitraum eine geeignete Maßnahme innerhalb der Schielbehandlung zur Therapie einer funktionellen Schwachsichtigkeit (Amblyopie) sein, jedoch gehören dazu spezielle Brillengläser mit Überkorrektur und anderes. Diese Behandlungen nennt man "Penalisation". Sie kommen allerdings erst in Frage, wenn eine zentrale Fixation des schielenden Auges nachgewiesen ist, was bei Ihrem Sohn vermutlich nicht erfolgt ist. Zudem erfordern sie eine sehr engmaschige Kontrolle.
Natürlich kann man auch bei Brillenunverträglichkeit versuchen, eine Vollkorrektur zu verordnen und mittels der Tropfen die Naheinstellungsfähigkeit (Akkommodation) auszuschalten. Das Ergebnis ist eine schlechte Sehschärfe in der Nähe und eine normale in der Ferne - vorausgesetzt, die Brille wird getragen.
Fazit: Wäre die Tropfengabe eine Maßnahme zur Amblyopiebehandlung, wäre sie nach Ihren Schilderungen unsachgemäß und deshalb unwirksam. Würden die Tropfen wegen der Brillenunverträglichkeit verabreicht, sollte man bedenken: Da sich der Aktionsradius bei Kleinkindern erfahrungsgemäß nicht in der Ferne, sondern eher in der Nähe befindet, macht solch ein "Trick" bei Ihrem Sohn vermutlich überhaupt keinen Sinn.
4. Was mich an Ihren Ausführungen irritiert, ist die Tatsache, dass Sie offenbar überhaupt keine Vorstellung davon haben, worum es in der Behandlung Ihres Sohnes überhaupt geht. Es passiert nicht selten, dass Patienten bzw. Angehörige die vielen Fachbegriffe nicht verstehen, oder dass eine ausführliche Aufklärung aus welchen Gründen auch immer unterbleibt. In diesem Fall sollte man solange den Arzt bzw. die Orthoptistin löchern, bis man wirklich jedes Detail begriffen hat. Das ist die Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen Therapiebeginn - ganz zu schweigen von einem Therapieerfolg oder einer guten Prognose! Sollte Ihre Augenärztin tatsächlich ein Schielen festgestellt haben und eine Okklusionsbehandlung erst für das 3-4 Lebensjahr angekündigt haben, suchen Sie sich dringend einen Spezialisten (siehe oben). Alles andere wird zum Nachteil Ihres Sohnes sein.
5. Wenn Sie Behandlungsmaßnahmen nicht verstehen oder akzeptieren, dann fragen Sie nach! Ihre Bereitschaft, die notwendigen Maßnahmen aktiv zu begleiten, ist ein absolutes Muß. Es macht keinen Sinn, die Praxis zu verlassen mit dem Gedanken im Kopf, die verordneten Therapien doch nicht durchzuführen - auch wenn Sie, wie im Falle Ihres Sohnes und im Zusammenhang mit den Augentropfen, offensichtlich unangebracht sind. Im Zweifel holen Sie sich eine 2. Meinung in einer anderen Praxis ein, die über strabologisches Fachwissen verfügt!
6. Ihr Sohn sollte bis zur nächsten Untersuchung die Brille weiter tragen. Lassen Sie die Tropfen weg, und suchen Sie sich kompetente Hilfe (Orthoptistin, Sehschule, orthoptische Abteilung etc.) Es sollte verbindlich geklärt werden, ob Ihr Sohn eine Schielerkrankung hat oder nicht. Daraus resultieren alle weiteren Behandlungsschritte, auch die Frage einer Brillenkorrektur. Kleinkinder sind nicht immer ganz einfach zu untersuchen, und die Ergebnisse müssen ggf. öfter als bei Erwachsenen immer wieder überprüft und validiert werden. Man wird deshalb in dem ein oder anderen Fall nicht umhin kommen, Behandlungsmaßnahmen aus reiner Vorbeugung durchzuführen, bis man zweifelsfrei nachgewiesen hat, dass es hierfür keinen medizinischen Grund mehr gibt. Solch ein Vorgehen ist immer noch besser, als u. U. notwendige Therapiemaßnahmen unterlassen zu haben, die zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr nachgeholt werden können. Das Tragen einer Brille birgt hierbei auch für den Fall, dass es sich ggf. als überflüssig erweisen sollte, keinerlei Risiken (wenn sie denn korrekt ausgemessen und angepasst wurde). Auch hier hängt alles von einer vertrauensvollen Kommunikation zwischen allen Beteiligten ab!
Alles Gute!