Re: Aggressiv, ist das normal?
Hallo Wildrose,
Sie deuten da etwas m.E. Wichtiges an, da sie das „biographische Selbst“ ansprechen („Vermutlich ließ sich ihre Bekannte noch nie gerne sagen was sie zu tun hat....“). Ich denke auch, das es persönliche Wesensmerkmale gibt, die, früh verankert, zu einer Verhaltensgrundlage werden können. Diese Verankerungen müssen entwicklungsneurobiologisch begriffen werden, d.h. z.B. überspitzt formuliert, der alte Spruch „hatte eine problematische Kindheit oder Jugend“ ist sehr viel wahrer, als allgemein anerkannt. Es gibt bestimmte Verhaltensmuster, die tief und uns kaum bewusst in Bereiche des Gehirns „absinken“ und dort „festverdrahtet schlummern“ bis sie u.a. durch Krankheit oder Krisen wieder aktiviert werden. Aber es muss gar nicht so problematisch sein. So kommt es z.B. bei Ehestreitigkeiten immer wieder vor, dass plötzlich „olle Kamellen“ aufgetischt werden. Gerhard ROTH umschrieb derlei anlässlich eines Vortrages vor Psychotherapeuten einmal mit den Worten: „Die Amygdala vergisst nie“. Dieser, auch Mandelkern genannte Bereich befindet sich in großer Nähe eines Gebildes, das Hippocampus genannt wird und der Ort für das Kurzzeitgedächtnis und v.a. der Organisation des Gehirns ist. Und just im Hippocampus treiben viele Demenzen schon früh ihr Unwesen. Daher darf vermutet werden, dass die normalen Interaktionen zwischen diesen tiefen Hirnteilen, deren eigentliches Treiben uns nicht bewusst ist (wir werden immer nur mit den Resultaten diesen vor einem bewussten Gewahrwerden ablaufenden Vorgänge konfrontiert) bei einer Demenz zunehmend gestört sind. Die Amygdala ist zuständig für unterschwellige Geruchswahrnehmung und v.a. ein Gefahrenwarnsystem, also ein Furchtauslöser. Es ist leicht einsehbar, dass dieses Teil uns überleben ließ, weil es schnelle Reaktionen anstößt ohne den zeitraubenden Umweg der Überlegung. Man kann ja nicht lange überlegen wenn ein Säbelzahntiger aus dem Gebüsch kommt. Die bewusste Verarbeitung erfolgt erst später und hat evolutionsbiologisch den Sinn, nicht jedes verdächtige Gebüschwackeln oder Geräusch gleich als Gefahr zu interpretieren – sonst wären wir permanent auf der Flucht oder am kämpfen. Man lernt so auch, dass man künftig die eine Gegend zu meiden und die andere zu bevorzugen hat. Ein anderer – von mehreren beteiligten – Teilen ist v.a. für uns arme Männer charakteristisch. Es ist ein kleiner Kern in einem Bereich, der Hypothalamus genannt wird und Nucleus präopticus medialis genannt wird (Frauen haben den nicht). Dieser Kern (es ist eine „Testosteronhochburg“) ist sowohl für Sexualität als stark an für Aggressionen beteiligt (der Mann vor einigen Millionen Jahren musste auf vieles fast simultan aufpassen: Verteidigung, Angriff, Fortpflanzung - und das hat praktisch die Entwicklung dieses Kerns begünstig - weswegen wir ihn immer noch haben, denn die ihn nicht hatten, blieben auf der Strecke).
Wenn nun das alles mehr und mehr durch neurodegenerative Krankheiten gestört wird, aus dem Takt kommt, dann kann es natürlich auch vorkommen, dass vormals friedliche Menschen wieder zu argwöhnischen und gewaltbereiten Individuen werden. Es ist ja in uns nur das, was irgendwann einmal unter ganz anderen Umständen einen Sinn für das Überleben der Person und seiner Art gemacht hat. Das ist übrigens ein Grundproblem für uns Menschen überhaupt – wie seinerzeit u.a. Konrad LORENZ, Hoimar von DITFURTH et al. schon richtig erkannten. Aggression ist ja alles andere als ein „Privileg“ cerebral erkrankter Menschen – es ist heute eine Geißel der Menschheit an sich.
Wir haben also alle ein aggressives Potential von unseren Urahnen geerbt, mit dem wir allerdings v.a. mittels kultureller Evolution zu leben gelernt haben, denn wir besitzen auch eine höhere Kontrollstruktur in unseren Köpfen, gleich oberhalb unserer Augen. Es ist der sog. Orbitofrontale Cortex, dessen Beschädigung oder Zerstörung uns rücksichtslos machen kann. Offensichtlich ist es aber auch möglich, an sich gesunde OFCs dermaßen „softwaremäßig“ (durch Gehirnwäsche) zu deformieren, dass an sich gesunde Menschen Verkehrsflugzeuge entführen und damit zur höheren Ehre ihrer Gottheit Hochhäuser zerstören und Artgenossen ermorden.
Unser Gehirn ist überwiegend nichts anderes als eine „Körperverwaltungs- und Überlebensmaschine“. Weshalb wir Qualia, also materiell nicht darstellbare Phänomene „produzieren“ wie bewusste Gedanken, usw. – es ginge auch ohne diese – kann nur ansatzweise über die Entwicklung der Sprachzentren angedeutet werden. Was Bewusstsein (dieses Konglomerat aus Bewusstseinszuständen) letztlich ist, weiß derzeit trotz vieler Hypothese noch keiner genau zu sagen. Hier streiten sich Identisten (das Gehirn produziere das Bewusstsein), Epiphänomenalisten (das Bewusstsein sei ein Begleitprodukt neuronalen Geschehens) und Dualisten (Bewusstsein an sich ist eine Eigenschaft der unserer Vernunft übersteigenden Welt, die erst nach und nach mit der Entwicklung des Lebens den Subjekten mit der Zunahme ihrer Komplexität zugänglich wird) mit unterschiedlichen Argumenten. Allgemein ist heute der Identismus vorherrschend, wenngleich prominente Hirnforscher wie Wolf SINGER diese Sicht immer auch mit einem epistemischen caveat, also einer erkenntnistheoretischen Warnung versehen und Gerhard ROTH zugibt, über das Gehirn an sich keine letztgültige Aussage machen zu können, da wir es ja bei der Untersuchung von Gehirnen auch immer mit einem Hirnkonstrukt zu tun haben. DITFURTH (von Haus aus habilitierter Psychiater) hatte die identistische und epiphänomenalistische Sicht mehrmals schon vor 25 Jahren mit m.E. guten Argumenten kritisiert – er war ein sehr eleganter Dualist, der seine Ansicht auf evolutionsbiologischer Grundlage vertrat und kein simpler Cartesianer, verwarf auch die Ansichten des bekannten Dualisten ECCLES.
Entschuldigen Sie bitte diese Abschweifung in philosophische Gefilde, aber wer sich – auch als Laie wie ich - tiefer mit Erkrankungen des Gehirns beschäftigt, den können m.E. derartige Problemfelder nicht ganz gleichgültig sein. Zurück zum Thema „Aggressionen bei Demenzerkrankungen“:
Wir können leider nicht vorhersagen, wie sich ein Mensch im Verlauf einer neurodegenerativer Erkrankung wie AD verhalten wird. Ich bin zwar der Auffassung, dass früher erworbene Grundhaltungen lange beibehalten werden, muss aber auch auf Durchbrüche „primitiven Verhaltens“ hinweisen. Auch lange unterdrückte Reaktionen („Aufgestautes“) könnten sich explosionsartig entladen weil die Kontrollinstanzen infolge der Krankheit versagen. Ich weiß z.B. nicht, was mein Vater alles im Krieg erlebt hat und was davon vielleicht wieder zum Vorschein kommen könnte. Die Menschen sind verschieden du ihre Krankheiten verlaufen nur innerhalb eines gewissen Rahmens stereotyp. Innerhalb dieses Rahmens variiert das Verhalten. Es kann ja auch gar nicht anders sein, denn Variation ist eine Grundbedingung allen Lebens ohne die eine Evolution nie hätte stattfinden können.
Und dann ist da natürlich auch dieser Zusammenbruch der Orientierung, der zu panischen und aggressiven Reaktionen führen kann. Insbesondere der drohenden Persönlichkeitszusammenbruch, der vmtl. gefühlte sich anbahnende Identitätsverslust kann möglicherweise durchaus zunächst als Ärgernis über fortschreitendes eigene Unvermögen und später als Todesfurcht erlebt werden. Das mobilisiert natürlich ein Abwehrverhalten. Ich denke an einen Vergleich mit einem um sich schlagenden ertrinkenden Nichtschwimmer. Vielleicht ist andererseits aber auch eine Todessehnsucht möglich, ein nicht mehr artikulierbares „Lasst mich doch endlich alle in Ruhe“.
Was kann man dagegen tun? Anfangs kann man es mit Validation versuchen. Man kann auch versuchen, der Krankheit positive Aspekte abzugewinnen indem man dem Kranken z.B. Musik, die er oft und gerne hörte, vorspielt. So kann es möglich sein, dass er diese Musik wieder so ähnlich hört, wie beim erstenmal. Vielleicht versuchen, das nicht mehr Erkannte als neu und frisch zu präsentieren – eine positive Grundhaltung zu allem Neuen ist hier hilfreich. Früher oder später werden es dann Medikamente sein, weil ohne diesen Eingriff in die Mikroprozesse des Gehirns keine Beruhigung und kein Wohlbefinden mehr möglich ist.
Überhaupt bin ich der Meinung, ab einem bestimmten Punkt den Menschen ein maximales Glück per Chemie zu verschaffen. Zu tun gibt es für den Kranken nichts mehr, soll er doch für den Rest seines Lebens völlig angstfrei und very happy sein – soweit das möglich ist. Die Körperempfindungen kann man weitestgehend abstellen, so dass es egal ist, ob da Sonden und dergl. angebracht werden müssen. Für mich selber würde ich – falls einmal in eine solche Lage geratend – empfehlen, entweder die Amygdala z.T. zu zerstören und/oder einen Cocktail von Opiaten oder ähnlichem, nachfolgend vielleicht mit DMT und schließlich Ketamin zu verabreichen. Damit wird das verbliebene Hirnkonstrukt von allen sensorischen und motorischen Funktionen entkoppelt (ähnlich einem Nahtoderlebnis), ist glücklich und zufrieden. Irgendwann bricht dann auch das zusammen und das Mysterium des Todes enträtselt sich.
Ich werde noch einen Thread über „Einfühlungsarbeit“ verfassen und dann in dieser schlaflosen Nacht noch etwas lesen bevor ich dann bald wieder meine Eltern aufsuche.
Gruss
Egon-Martin